Widerstand gegen den judenfeindlichen Nationalsozialismus:
Die Flugblatt-Aktion des katholischen Theologiestudenten
Heinrich Althausen aus Lommersum (1934)

von Hans-Dieter Arntz

veröffentlicht 2008 in: „Weilerswister Heimatblätter“ des Geschichts- und Heimatvereins
Weilerswist e.V.,  Heft 36, S. 38-42
21.05.2008

Unter der Überschrift „Kirchlicher Widerstand im Kreis Euskirchen“ hatte ich auf Aktivitäten hingewiesen, die auch unbekannt gebliebenen Protest gegen den Nationalsozialismus skizzierten. Bekannt geworden ist jedoch - im Gegensatz zu diesem fast stummen Widerstand – Willi Graf („Weiße Rose“), Dechant Joseph Emonds aus Kirchheim oder Fritz Juhl aus Meckenheim.

1. Protest gegen Rassismus und Rosenbergs Theorien

Offenbar unbekannt geblieben ist ein Verfahren gegen den katholischen Theologiestudenten Heinrich Althausen aus Lommersum (Weilerswist), der im Jahre 1934 gegen den Rassismus der Nationalsozialisten und das Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ von Rosenberg protestierte und diesbezügliche Flugblätter in seiner Heimat verbreitete. Hierüber berichtete ich schon kurz in meinem Buch JUDAICA – Juden in der Voreifel auf Seite 449. Der aus Kuchenheim stammende Willi Graf büßte wegen einer allerdings anders dimensionierten Handlung dafür mit seinem Leben. Der katholische Student aus Lommersum kam mit einer Geldstrafe davon.

 

lommersum

 

Vor einigen Monaten nahm Frau Irmgard Goebels aus Weilerswist Kontakt mit mir auf, da sie auf meiner Homepage erstmalig über ihren Großonkel, den Bruder ihres Großvaters Mathias Althausen, und dessen Flugblatt-Aktion gelesen hatte.

Heinrich Althausen wurde am 13. September 1911 in Lommersum (Kreis Euskirchen) geboren. Als er  im Alter von 68 Jahren am 6. Oktober 1979 in Bad Bergzabern, wo er viele Jahre als Pfarrer und Dechant gewirkt hatte, starb hieß es in einem offiziellen Nachruf:

Mit ihm ging ein Mensch dahin, der viele Freunde hatte, ein aufrechter Mensch, der sich auch nicht scheute, die Dinge beim Namen zu nennen, wenn es darauf ankam.

Wie richtig tatsächlich diese Feststellung war, beweist ein Rückblick auf das Jahr 1934, als der junge Akademiker das sagte, was man im Nationalsozialismus nicht sagen durfte. Sehr wahrscheinlich hatte es auch im späteren Verlauf seines Wirkens mehrere Situationen gegeben, in denen der Geistliche seine Auffassung konsequent verfolgte.

Als junger Mann hatte er die so genannte Machtergreifung in seiner dörflichen Heimat miterlebt. Auch die Diskriminierung der ihm bekannten jüdischen Familie Stock bewegte ihn sehr; ihre Diffamierung in der Lokalausgabe des Westdeutschen Beobachters war ihm bekannt. Der junge Theologiestudent kannte die wichtigsten Passagen aus dem Rosenberg-Pamphlet „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ und hatte sich mit dieser nationalsozialistischen „Wertung der seelisch-geistigen Gestaltkämpfe unserer Zeit“ ernsthaft auseinandergesetzt. Heinrich Althausen wollte katholischer Geistlicher werden und empfing am 22. Juli 1937 zu Köln die Priesterweihe. Aber zuvor stand ihm eine „Prüfung“ bevor, die von Charakter zeugte und offenbar in seiner Heimat auch so gewürdigt wurde: die Verteilung seiner Flugblätter im Dezember 1934.

2. Diskriminierung jüdischer Mitbürger

Zu den Bekannten von Heinrich Althausen gehörten auch die jüdischen Mitbürger Hermann (geb. 1895), Walter (geb. 1903) und Otto Stock (geb. 1904) aus Lommersum, die zu dem jungen Theologiestudenten ein Vertrauensverhältnis hatten. Wahrscheinlich erkannte er hierdurch Details über den immer stärker werdenden Boykott und die Diskriminierung der Juden. Die intellektuelle Vertiefung erfuhr Heinrich Althausen im Bonner Studium und in vielen  Diskussionen über die Ideologie der neuen Machthaber.

Die „Pranger“- Stimmung  der Zeit 1934/35 sollen 3 Zeitungsartikel verdeutlichen, von denen 2 am gleichen Tag publiziert wurden. Hier ging es um Mitglieder der jüdischen Familie Stock in seiner Heimat Lommersum:

1.) Betr. Otto Stock:  Artikel vom 8. Juni 1934
„Wie wir erfahren, gibt es noch immer deutsche Mädchen, die diesen Namen nicht verdienen, an denen all unsere Aufklärungsarbeit spurlos vorübergeht. So schämt sich eine gewisse ,Dame' aus Kirspenich nicht, dauernd mit dem Juden Otto Stock aus Lommersum zu verkehren. Spät abends sieht man das Pärchen oft in enger Umarmung hinter den Chausseebäumen der Niederberger Straße. Vielleicht genügt dieser öffentliche Hinweis, damit sich die Eltern ihrer Tochter etwas mehr annehmen und ihr einmal klarmachen, was sich für ein anständiges deutsches Mädchen gehört."

2.) Betr. Walter Stock: Artikel vom 8. Juni 1934
„Der bekannte Viehjude Walter Stock aus Lommersum, mehrfach vorbestraft wegen Diebstahls, Betrug und Hehlerei, wurde heute wieder in das Gefängnis des hiesigen Amtsgerichts eingeliefert. Ohne Handelserlaubnis hatte dieser berüchtigte Judenjunge einer armen Witwe, die sich in finanzieller Bedrängnis befand, einen schweren Ochsen und ein Kalb für den Hehlerpreis von 200 Mark abgeschwindelt, indem er die Notlage der 70jährigen Frau ausnutzte und ihr erklärte, daß sie im Falle einer Zwangsversteigerung noch nicht einmal diesen Betrag erhalten würde und auch ihr anderes Besitztum, Mobiliar etc. ebenfalls für ein Schleudergeld verloren ging. Wenn man einerseits nicht verstehen kann, daß es immer noch Landwirte und Bauern gibt, die mit den Juden Geschäfte machen müssen und in diesen betrügerischen Machenschaften ihre gerechte Strafe finden, so ist doch andererseits das gemeine und verbrecherische Gebaren dieses Viehjuden an den Pranger zu stellen. Dies soll noch einmal unsere dauernde Mahnung unterstreichen: MACHT KEINE GESCHÄFTE MIT DEN JUDEN!"

3.) Betr. Hermann Stock: Artikel vom 21. Juni 1935

judenspiegel3. Verurteilung wegen Verbreitung von Flugblättern

Der 23jährige Theologiestudent Heinrich Althausen beabsichtigte, kurz vor dem Weihnachtsfest 1934 allen katholischen Familien des Dorfes Lommersum eine „christliche Botschaft“ zukommen zu lassen. Auf einer alten Schreibmaschine verfasste er einen Text, der sich gegen Rosenbergs „Mythus des 20.Jahrhunderts“ wandte und zur demonstrativen Teilnahme an der weihnachtlichen Kommunion aufrief. Aus einer Anlage wird ersichtlich, dass er auch gegen die kirchenfeindliche und rassistische Haltung der neuen Reichsregierung angehen wollte. Letzteres schien wohl bewusst in der Anklage verharmlost worden zu sein, denn es hatte sich inzwischen herausgestellt, dass ein großer Teil der Bevölkerung seine Ansicht vertrat und  in Diskussionen erörterte. Das kleine Lommersum galt als „typisch katholisches Dorf“, das laut Pfarrchronik bereits mit Johann Pfeil (1873), Friedrich Wißkirchen aus Hausweiler (1903) und  Wilhelm Rheindorf aus Ottenheim (1922) engagierte Priester gestellt hatte. Viele Dorfbewohner waren am 22.Juli 1937 anwesend, als Heinrich Althausen im Kölner Dom von Kardinal Karl Josef Schulte, Erzbischof von Köln, zum Priester geweiht wurde.

 

So ist es nicht verwunderlich, dass der Ortsgruppenleiter von Lommersum offenbar angehalten wurde, sich maßvoll zurückzuhalten. Die Tatsache, dass die Dorfbevölkerung am 25. Juli 1937 die feierliche Primiz zu einem ganz besonderen Ereignis stilisierte und selbst nationalsozialistische Einrichtungen neben den Hakenkreuzfahnen angemessenen Schmuck und Gierlanden befestigten, spricht somit für sich.

 

Selbst der ansonsten polemische und vor Hass triefende Westdeutsche Beobachter vom 15. April 1935 gab im Allgemeinen den eigentlichen Sachverhalt gemäßigt und den Verlauf der Bonner Gerichtsverhandlung richtig wieder. Man wollte keine jugendlichen Märtyrer aus dem kirchlichen Umfeld. Dennoch sollte unterschwellig die Warnung vor einer Wiederholung erkennbar sein:

 

Westdeutscher Beobachter vom 15.04.1935, Lokalteil Euskirchen:

Der Student der Theologie Heinrich Althausen aus Lommersum wurde wegen Verbreitung von Flugblättern von dem Schöffengericht in Bonn wegen Vergehens gegen § 4 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28.02.1933 in Verbindung mit der Anordnung des Regierungspräsidenten in Köln vom 29.05.1934 zu einer Geldstrafe von 150 RM, ersatzweise zu zehn Tagen Gefängnis und zu den Kosten des Verfahrens verurteilt.

Im Dezember 1934 ließ der Angeklagte, der Student der Theologie ist, mittels Schreibmaschine Flugblätter des aus Bl. 2 d. A. ersichtlichen Inhalts zur Versendung an alle katholischen Familien seines Heimatortes Lommersum herstellen. Am 22. Dezember 1934 gab er 30 dieser Flugblätter in Euskirchen als Drucksache in Umschlägen mit der Anschrift der Empfänger zur Post. Im Ganzen wollte er 200 Flugblätter versenden. Er hat aber die weitere Versendung aufgegeben, als ihm bekannt wurde, dass der Ortsgruppenleiter der NSDAP an dem Inhalt Anstoß genommen hatte.

Was den Inhalt des Flugblattes angeht, so stellt er eine Bekämpfung der in Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts vertretenen Weltanschauung dar, an die sich eine Ermahnung zur Teilnahme an der Weihnachtskommunion schließt. Der Angeklagte will also auf die Empfänger der Flugblätter dahin einwirken, dass sie sich nicht durch weltanschauliche Einflüsse der genannten Art von der Teilnahme am kirchlichen Leben abhalten lassen. Eine solche Einwirkung fällt aber unter den Begriff der Kirchenpolitik im weitesten Sinne. Die Herstellung und Versendung solcher Flugblätter ist durch die staatspolitische Anordnung des Regierungspräsidenten in Köln vom 29. Mai 1934 verboten.

Der Angeklagte war daher auf Grund der erwähnten Verordnung des Reichspräsidenten zu bestrafen.

Er ist noch unbestraft, hat offensichtlich aus religiösem Glaubenseifer gehandelt und, wie er glaubhaft versichert, nicht erwartet, dass ein Empfänger an dem Inhalt Anstoß nehmen könnte. Er hat auch, nachdem er erfahren hatte, dass doch durch das Flugblatt Unruhe entstanden war, die Weiterversendung sofort eingestellt; auch, als der Verdacht der Täterschaft auf andere fiel, sich als Täter bekannt. Da er ferner ohne Vermögen und Einkommen ist, lag kein Anlass vor, über die gesetzliche Mindeststrafe hinaus zu gehen, die für den Angeklagten schon eine sehr harte Strafe darstellt.

Interessant ist noch, dass sich der Angeklagte Fahrgeld für die Teilnahme an dem Gerichtstermine in Bonn von der Gemeinde bezahlen ließ, obgleich er seiner Zeit Geld genug hatte, um die Unkosten für die Herstellung und den Versand von 200 Flugblättern zu bezahlen.“

Die Angehörigen der Familien Diefenthal in Lommersum und Goebels in Weilerswist glauben sich heute zu erinnern, dass der spätere Kardinal Joseph Frings – zu jener Zeit Pfarrer an St. Joseph in Köln-Braunfels - an der Bonner Gerichtsverhandlung als Zuschauer teilnahm. Er lobte später persönlich die christliche Haltung des jungen katholischen Theologiestudenten.

Die feierliche Primiz am 25. Juli 1937 in Lommersum.

 

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4. Heinrich Althausen, Pfarrer und Dechant
Auf die Frage, welche Persönlichkeiten oder Umstände Heinrich Althausen in der Jugend prägten, meinten die Angehörigen der Familien Diefenthal und Goebels, dass der am Emil-Fischer-Gymnasium in Euskirchen unterrichtende Religionslehrer Dr. Freistedt „die Weichen gestellt“ habe. Nach seiner Volksschulzeit in Lommersum und dem anschließenden Besuch des Gymnasiums (damals „Oberschule“) in Euskirchen, studierte Heinrich Althausen in Bonn. An Wochenenden belegte er Lehrgänge in der ehemaligen Zisterzienser-Abtei Altenberg. Die Fahrt ins nahe Bergische Land kostete ihn sein gesamtes Taschengeld.


althausen

 

althausen_heuteElf Jahre lang war Heinrich Althausen Kaplan in Pirmasens St. Anton und hatte dann  von 1948 bis 1977 die Pfarrei St. Martin in Bad Bergzabern inne. Er war Bischöflicher Geistlicher Rat und Prosynodalrichter. Seine manchmal etwas eigenwillige, aber ehrliche Art, die schon einst beim Erstellen der Flugblätter gegen die Nationalsozialisten deutlich wurde, behielt er bis zu seinem Lebensende. Wenn er im Urlaub bei seinen Verwandten weilte und in der Kirche der Pfarrei St. Pankratius von Lommersum predigte, soll das Gotteshaus voll gewesen sein.

Während seiner „Amtszeit“ in Bad Bergzabern wurde u.a. die Pfarrkirche St. Martin renoviert und im Jahr 1975 der neue Kindergarten und ein Schwesternwohnheim erbaut. Besonders engagierte sich Heinrich Althausen in den Jahren 1964 bis 1967, als das Edith-Stein-Haus als neues Jugendheim geplant und gebaut wurde. Durch die Namensgebung wollte er an die ehemalige Jüdin Edith Stein erinnern, die am 1. Januar 1922 in „seiner“ katholischen Kirche St. Martin getauft  wurde. Am 11. Oktober 1998 wurde sie dann von Papst Johannes Paul II. heilig gesprochen.

Die Persönlichkeit der Edith Stein muss den Theologen Althausen stark beschäftigt haben. Deren  Auseinandersetzung mit dem Judentum und das praktizierte Christentum thematisierte er oft in den Predigten. Eine Abhandlung unter der Überschrift „Dr. Edith Stein, Schwester Teresia Benedicta a Cruce C.D. und ihre Beziehung zur St. Martins-Kirche, Bad Bergzabern“, die in der Festschrift „St. Martin 1879-1979 Bad Bergzabern“ auf den Seiten 86 bis 95 publiziert wurde, scheint auch eigene Lebenserfahrungen zu beinhalten.

Heinrich Althausen erlag am 6. Oktober 1979 einem Herzschlag.

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