Vergangenheitsbewältigung auf privater Ebene –
Erinnerung an „uns Erna“,die nach Flamersheim zurückkehrte

von Hans-Dieter Arntz
03.12.2007

Eine regionalhistorische Homepage hat den Vorteil, dass man stets in Kontakt mit Lesern aus der Umgebung ist. Oft bieten sie ergänzendes Material an oder reagieren spontan auf  Artikel und Bilder. Gleichzeitig regen sie zum Nachdenken an.

Die im Verlaufe dieses Beitrages nachzulesenden Zeitungsartikel erinnern mich an Begegnungen, die fast 30 Jahre zurückliegen, stellen mir aber jetzt auch die Frage, ob dies damals eine Form privater „Vergangenheitsbewältigung“ war. Eigentlich ist die „Bewältigung der jüngsten Vergangenheit“ institutionalisiert. Aber kann vielleicht die Summe privater und individueller Aktivitäten einen  Teilerfolg bewirken? Die Erinnerung an meine eigene Schulzeit sowie die dortige Aufarbeitung der deutschen Geschichte ist nicht sehr positiv. 

Vor einigen Tagen teilte mir eine  junge Frau aus Euskirchen-Kirchheim mit, sie habe einige Zeitungsartikel aus der Zeit 1980 bis 1983 gefunden. Dabei wies sie auf Karl Jonas hin, einen  längst verstorbenen Bekannten, der kurz vor der „Reichspogromnacht“ einen massiven Schreibtisch des jüdischen Kaufmannes Emil Herz (1883-1942) aus Flamersheim gekauft und bewahrt hatte. Dass dieser Schreibtisch im Jahre 1983 wieder in den Besitz der Familie Herz kam, deren Angehörige inzwischen in Israel wohnten, ist der Familie Willi Schmitz zu verdanken. Seine Ehefrau, Brigitte Schmitz geb. Jonas, entschied 1980 sofort nach dem ersten Treffen mit der Tochter Erna Herz: „ Nach mehr als 40 Jahren soll der Schreibtisch wieder den ehemaligen jüdischen Besitzern gehören!“

 

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Text: v.l.n.r. Willi und Brigitte Schmitz , Peter Roth und Hans-Dieter Arntz beim Abtransport des Möbelstückes

 

Bis zur Enteignung durch die Nationalsozialisten war Emil Herz Inhaber der jüdischen Gertreidefirma Eduard Herz und Söhne. Lager und Kontor befanden sich am Bahnhof des 3 km entfernten Dorfes Odendorf. Der Euskirchener Oberstudienrat Peter Roth konnte 1980 die Tochter Erna Herz (verh. Herzberg) dazu bewegen, wieder  ihre alte Heimat  zu besuchen. Die Presse schrieb hierzu am 31. Juli 1980: „Tränen flossen, als uns Erna heimkehrte“:

 

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Vergangenheitsbewältigung

Was bedeutet eigentlich „Aufarbeitung der Vergangenheit“ oder gar „Vergangenheitsbewältigung“? Dieser terminus technicus ist  mir seit Jahrzehnten eigentlich so geläufig, dass ich schon gar nicht mehr über eine diesbezügliche Semantik und ähnliches nachdenke, weil doch jedem klar ist, dass das Wort etwas mit der „jüngsten Vergangenheit“ zu tun hat und zwar mit der deutschen Vergangenheit. Dabei ist selbstverständlich, dass es keineswegs um die Kaiserzeit oder Weimarer Republik geht, sondern um den Zeitraum 1933-1945, der Diktatur, Krieg und Holocaust beinhaltet. Das wird bei uns keiner bestreiten können.
In anderen Ländern ist das nicht so. Wer zum Beispiel Italien bereist, kennt vielleicht die große Inschrift an der Universität von  Padua, die die den Namen Mussolini preist, oder faschistische Relikte in Rom. Irgendwie hat man den Eindruck, dass  einige europäische Länder in dieser Hinsicht gar nichts oder nur wenig „aufzuarbeiten“ haben.

Als ehemaliger Gymnasiallehrer pflegte ich erst einmal bei einer Begriffsbestimmung etymologisch und historisch vorzugehen; heutzutage geht das am schnellsten mit Hilfe von Internet  oder der inzwischen ungewöhnlich differenzierten und detaillierten Fachliteratur. Das habe ich bei dem Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ nie getan, weil mir das überflüssig erschien. „Aufarbeitung der Vergangenheit“ war für mich im Prinzip ein didaktisches und methodisches Postulat, Wissen über das Dritte Reich zu vermitteln, wobei ich mich hoffentlich einigermaßen wertfrei über die Entstehung und den politischen Verlauf der NS-Diktatur äußerte. Im Gegensatz zu meinen eigenen Lehrern in den 50er Jahren fühlte ich mich später als Pädagoge hierfür sogar geeignet, sonnte man sich doch in der „Gnade der späten Geburt“. Ich hatte ja diese Zeit selbst nicht mehr erlebt!

Das war in meiner eigenen Schulzeit tatsächlich anders. Viele Lehrer hatten irgendwie ein Päckchen mit sich herumzutragen, das sie aus dem Dritten Reich mitgebracht hatten. Da war der Erdkundelehrer, der bei jedem Geräusch zusammenzuckte und uns deswegen unkontrolliert in der Untertertia anschrie, was uns erheiterte. Erst als bei einem Elternabend berichtet wurde, dass dieser Erdkundelehrer mehrere Tage in Stalingrad verschüttet gewesen war, wurden wir nachdenklich.

Der Englischlehrer, dessen zehn Finger an einem Maschinengewehr festgefroren waren, so dass er erst nach einer Not- Amputation aus dem russischen Kessel herausgeflogen werden konnte, sprach selber nie über seinen Zustand. Der Lateinlehrer, dessen Frau Halbjüdin war und wegen deren Ausgrenzung und Diskriminierung er offenbar auch noch nach dem Kriege Probleme hatte, wurde in eine benachbarte Stadt versetzt. Seine Auseinandersetzungen mit einem Kollegen, dessen Zugehörigkeit zur SS auch uns Schülern bekannt war, drangen zu deutlich in die Öffentlichkeit. Der rundliche Deutschlehrer, der im 3. Reich Oberstudiendirektor war und nach der Entnazifizierung in zurückgestufter Position auch im Fach Religion christlich-demokratische Ideale propagieren wollte, hatte von allem nichts gewusst.

Wo wurde während meiner Schulzeit „Vergangenheit bewältigt“? Keineswegs in der Schule! Das Curriculum wurde bis zur Kaiserzeit durchgezogen, in der Oberstufe waren wir wieder bei den Germanen. Ich hatte damals nie verstanden, warum mein Klassenlehrer vor dem Vater eines Mitschülers buckelte, nur weil der unter Konrad Adenauer Staatssekretär war und als wichtiger Stützpfeiler von Adenauers „Kanzlerdemokratie“ fungierte. In einigen Nachbarländern war aber dieser Mann wegen seiner judenfeindlichen Rechtspolitik  sowie den Ausführungsverordnungen der Nürnberger Gesetze (1935) doch zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Ein älterer Mitschüler, dessen Vater Vertriebenenminister war, wurde fälschlich von der DDR des Verstoßes gegen die Menschlichkeit beschuldigt und in Abwesenheit zu einer Höchststrafe  verurteilt. Einzelheiten mussten mir meine Eltern erklären. Aber war das „Aufarbeitung der jüngsten Geschichte“?


Heutzutage kann ein Schüler kann online bei school-scout.de  lesen:

Der Begriff Vergangenheitsbewältigung klingt beim ersten Hinhören paradox. Schließlich ist die Vergangenheit eine bereits abgeschlossene Phase; Versäumnisse der Vergangenheit können nicht ungeschehen gemacht, Fehler nicht im Nachhinein vermieden werden. Wie also soll man ein abgeschlossenes Geschehen nachträglich bewältigen, wenn man es in der Zeit, als es noch nicht abgeschlossen war, nicht bewältigen konnte?

Das ist logisch! Eigentlich denkt der Durchschnittsbürger der Bundesrepublik Deutschland genauso. Viele meiner Schüler konnten sich ebenfalls dieser Ansicht anschließen. Ihre Argumentation ging dahin, dass ihre Generation nichts für „das“ könne.

Mit der Entnazifizierung und Bestrafung der Täter, einer Rehabilitierung oder Wiedergutmachung hatten und haben die Bürger – eigentlich bis heutzutage -  kaum etwas zu tun, weil Menschenrechtsverletzungen und Sühne meist den jeweiligen Systemen und Institutionen offiziell vorbehalten bleiben. Insofern ist eine derartige „Aufarbeitung der Geschichte“ in letzter Konsequenz bürgerfern und manchmal in der Realität kaum merkbar.

Hinzu kommt, dass bis heute Kriegsverbrechen geleugnet oder immer noch unbekannt sind. Ein Problem scheint es auch zu sein, sich als Einzelner oder in einer Gruppe mit dem Zeitgeist und dem Verdrängungsmechanismus unserer  Gesellschaft und deren Institutionen auseinanderzusetzen. Falls es keinen medialen Background  oder ein Feedback gibt, bleiben kleinere Initiativen auf Belehrungs- und Erinnerungskultur beschränkt. Dokumentationszentren, Mahnmale, Straßenbenennungen und die historische Aufarbeitung – auch im Mikrokosmos der Region – sollten als Beispiele genannt werden.

 

Begegnung mit dem Vergangenen in Euskirchen-Flamersheim

Im Kreise Euskirchen wurde man  auf diesem Gebiet mit Ende der 70er Jahre tätig. Die zaghafte Kontaktaufnahme mit im Ausland lebenden Juden – die übrigens mit dem Ausdruck „ehemalige jüdische Mitbürger“ selten etwas anfangen konnten -, die Einladungen und Begegnungen „in der alten Heimat“ oder regionale Dokumentationen personifizierten unsere „jüngste Vergangenheit“ und gaben den ansonsten anonymen Opfern des nationalsozialistischen Terrors ein Gesicht. Diese persönliche Nähe zur „Vergangenheit“ und die Bereitschaft, diese bewusst zu suchen, haben viele meiner Bekannten sensibilisiert und konfrontiert. Keiner kam jedoch auf den Gedanken, diese Begegnungen als „Wiedergutmachung“ oder „Bewältigung der Vergangenheit“ zu bewerten. Das war alles für uns selbstverständlich.

Es war anfangs nicht leicht, eine gewisse Scheu vor einer Begegnung zu überwinden. Dann folgte der Versuch, mit Hilfe eines nostalgischen Rückblicks – selbstverständlich auf die Zeit vor 1933 – Schönes und Erinnernswertes zu thematisieren, wobei ganz bewusst auf das richtige Vokabular und den Inhalt des Gesprächs geachtet wurde. Der Ausdruck „Kristallnacht“ war verpönt, „Novemberpogrom“ bevorzugt. Meiner Meinung nach war in jedem Gespräch  der Unterton einer Entschuldigung, die eine frühere  Machtlosigkeit oder Unkenntnis erklärten sollte.

Der  bereits erwähnte Schreibtisch der Familien Jonas/Schmitz aus Kirchheim, der einst dem jüdischen Kaufmann Emil Herz (1883-1942) aus Flamersheim gehörte, und nun an im Jahre 1983 zu den Familienangehörigen (Tochter Erna und Enkel Uri) nach Israel kam, ist eine Geschichte für sich und vielleicht ein Beispiel für die individuelle und versöhnliche „Aufarbeitung der jüngsten Geschichte.“


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Schreibtisch nach Israel geschickt
Für Kinder und Enkel des im KZ ermordeten Emil Herz ein kostbares Erinnerungsstück

(Aus: Kölner Stadt-Anzeiger, Lokalteil Euskirchen/Euskirchener Land, vom 15. September 1983)

 

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NICHT GANZ EINFACH, den massiven Eichen-Schreibtisch auf den Dachgepäckträger zu stemmen. Peter Roth (links)

und Hans-Dieter Arntz transportierten das Möbelstück zunächst nach Troisdorf.

 

Hans-Dieter Arntz, Autor der „JUDAICA", bereitet für Juni 1984 ein Treffen mit ehemaligen Flamersheimer Juden in ihrer alten Heimat vor. Arntz hat die Verbindungen, die er während der Arbeit an seinem Buch knüpfte, nicht abrei­ßen lassen. Viele der Juden, mit denen er korrespondierte, das hat Arntz in Vorträgen immer wieder betont, wünschen, die Orte, in denen sie ihre Kindheit und Jugend verbrachten, wieder­ zu sehen.

Welche Bedeutung und wel­chen ideellen Wert auch alte Er­innerungsstücke haben können, schildert Arntz an einer Begebenheit ganz besonderer Art: Mit der tatkräftigen Hilfe dreier Kollegen schickte er einen schweren alten Schreibtisch von Flamersheim aus auf die Reise nach Tel Aviv.

Auswanderungsgesuche

Das massive Eichen-Möbel­stück gehörte von 1900 bis 1937 dem jüdischen Getreidehändler und einstigem Gemeinderatsmit­glied Emil Herz. Der Schreib­tisch stand im Arbeitszimmer des stattlichen Hauses am Marktplatz. Hier bestätigte Emil Herz Kornkäufe, unterschrieb Gemeindebeschlüsse und verfasste Auswanderungsgesuche nach Palästina. 14 Monate vor der so genannten „Reichkristall­nacht“ verkaufte Emil Herz das wuchtige Möbelstück an die be­freundete Familie Jonas nach Kirchheim. Der traurige Anlass des Verkaufs: Auch er und seine Frau wollten weg aus Deutsch­land. Ihre Auswanderungsan­träge jedoch wurden abgelehnt.

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Emil Herz  (1883-1942) war Mitglied des Flamersheimer Gemeinderates

Ins Warschauer Getto

Emil und Emma Herz wurden im Juli 1942 ins Warschauer Getto deportiert und später in einem unbekannten Vernich­tungslager getötet. Jener alte Schreibtisch aber überstand un­beschadet den Zweiten Welt­krieg und den Einmarsch der Be­satzungstruppen.Für den Kirchheimer Karl Jonas blieb er ein Erinnerungsstück an den jüdi­schen Freund Emil Herz. Trotz guter Angebote verkaufte er den Schreibtisch nicht.

Im Sommer 1982 änderte sich die Situation. Hans-Dieter Arntz und der Oberstudienrat Peter Roth hatten die in Israel lebende Tochter von Emil Herz nach Fla­mersheim eingeladen und einen Besuch in ihrem ehemaligen El­ternhaus vermittelt. Erna Herz besuchte bei dieser Gelegenheit auch die Angehörigen der Familie Jonas Jonas in Kirchheim, und die wiederum beschloss, den Schreibtisch den Angehörigen der Familie Herz zu schenken.

Brigitte Schmitz, Kollegin von Hans-Dieter Arntz und Tochter des inzwischen verstorbenen Karl Jonas hielt Wort. Gemeinsam mit Hans-Dieter Arntz und Peter Roth wurde der Schreibtisch jetzt im Juni auf den Kuli eines VW-Käfers geladen und nach Troisdorf zu dem Heimatfor­scher und Pädagogen Norbert Flörken gebracht. Ähnlich wie Arntz befasst sich auch Flörken mit der Geschichte der Juden im Siegburger Bereich. Gemeinsam wurde der Schreibtisch per Luft­fracht nach Tel Aviv geschickt. Die Kosten hatte man intern aufgeteilt.

Am 8. September 1984 erwarteten 15 Mitglieder der Familie Herz-Herzberg in Tel Aviv den Schreibtisch des Flamersheimers Emil Herz. Hans-Dieter Arntz berichtete: „In Telefongesprä­chen wurde versichert, dass die Ankunft des Möbelstückes mit Freude und Erschütterung er­wartet wurde. Wer sich vorstel­len kann, dass die wenigsten Juden Erinnerungsstücke, Fotos oder gar Möbel mit nach Palä­stina oder Israel mitnehmen konnten, der versteht, was heute ein 83jähriger Schreibtisch aus deutscher Eiche für die Familie Herz bedeutet."

 

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Ein Schreibtisch auf großer Reise: Familie Norbert Flörken aus Troisdorf verpackt den Schreibtisch
und bringt ihn zum Flughafen Köln/Bonn.

 

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Uri Herzberg beim Empfang des Schreibtisches seines Großvaters, Emil Herz , in Tel Aviv.

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