NS-Täter profitieren von der Hilflosigkeit der Justiz: Ein weiterer Beitrag zur Diskussion um die angeblichen „Täter“ von den Ordensburgen

von Hans-Dieter Arntz
22.09.2007

In einer Zeit, in der gelegentlich Neonazis, Rechtsradikale und  ewig Gestrige unser demokratisches Denken verwirren, sollte man nicht unkontrollierte „Entdeckungen“ oder teilweise falsche Behauptungen über Verbrechen während der Zeit des Dritten Reiches propagieren, besonders dann nicht, wenn sie der wissenschaftlichen Bestätigung bedürfen. Daher ist auch die Forderung nach der baldigen Institutionalisierung eines Dokumentationszentrum auf der ehemaligen Ordensburg Vogelsang dringender denn je.

Nicht jedoch der Historiker – oder gelegentlich gar der unbedarfte Journalist –, sondern der Jurist trifft bzw. traf die Entscheidung, ob zum Beispiel der typische „Junker“ der NS-Ordensburg im Verlaufe des 2. Weltkrieges eventuell zu einem „Täter“ oder „Massenmörder“ geworden ist. Wie jedoch soll diese Problematik in einem Dokumentationszentrum aufgearbeitet werden?


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Auschnitt aus einem Foto, das in dem Standardwerk von Hans-Dieter Arntz Ordensburg Vogelsang 1934-1945

 

vogelsangDas Problem liegt meines Erachtens weniger im unvollständigen Aktenmaterial der Archive, sondern in der Nachkriegsjustiz und deren Urteilen.

Unter der Überschrift NS-Ordensburg Vogelsang: Irritationen um Aufarbeitung der Geschichte“ wandte ich mich am 29. November 2006 gegen eine Falschmeldung von dpa (24. Nov.2006) und der Eifel-Presse, man hätte Unterlagen und „Personalakten“ gefunden, die alle „Junker der NS-Ordensburgen“ als „Massenmörder“ ausweisen könnten:

Bis April 1944  gab es derartige Exekutionen von niederländischen Widerstandskämpfern. Sie wurden von Angehörigen der „Germanischen SS in den Niederlanden“ durchgeführt und als „geheime Reichssache“ gehandhabt. Der „SS-Scherge“ Heinrich B(…) – also kein „Junker“ der  Ordensburgen – gehörte einer derartigen Einheit an. Eine Zuwiderhandlung der geplanten „Aktionen“ sah die Einweisung in ein Konzentrationslager oder die Todesstrafe vor.

Erschreckend ist die Erkenntnis, dass der nationalsozialistische Fanatismus den Wertepegel derart verändern konnte, dass bis heute selbst rechtmäßig Verurteilte immer noch nicht von ihrem Verbrechen überzeugt werden konnten, ja, bis heute an die Rechtmäßigkeit ihres Handelns – meist in der Zeit zwischen 1942 und 1945 – glauben. Und das Schlimme ist, dass die Justiz offenbar Schwierigkeiten hat, tatsächliche Mörder als „Täter“ zu stigmatisieren.

 Während ich bereits Fälle brachte, nach denen selbst Gerichte „aus Mangel an Beweisen“ - und überlebt habenden Zeugen - zu keiner gerechten Urteilsfindung kamen, ist der von Detlef Schmalenberg dargestellte Fall noch krasser. Typische Formfehler bei den Nachkriegs-Gerichtsverfahren wurden sogar noch in jüngster Zeit anerkannt und – so berichtet der Journalist Detlef Schmalenberg weiter -, das Kölner Oberlandesgericht bestätigte im Februar 2007 (!!!) die juristische Entscheidung.

So grotesk es klingt: Der nach Ansicht der Richter kann sich der `heimtückische´ Mörder auf internationales Völkerrecht berufen. Es geht um Fairness in Gerichtsverfahren und die Menschenwürde des Angeklagten.

Vereinfacht soll die Begründung zusammengefasst werden: Beim ersten Gerichtsverfahren hatte man dem Angeklagten keinen Pflichtverteidiger zugeordnet.

Ehe ich im Laufe meines Beitrages auf die NS-Ordensburgen zu sprechen komme, sei auf  die Biographie  des heute in Eschweiler bei Aachen lebenden Heinrich B(…) hingewiesen, die von Detlef Schmalenberg zusammengefasst wird:

Henrich B(…), in den Niederlan­den geboren, hat sich Ende 1940 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und fast zwei Jahre lang an der Ost­front gekämpft. Sein Eintritt in die selbst ernannte Eliteeinheit war möglich, weil er eine deutsche Mut­ter hatte. 1942 kehrte er als Mitglied der `Germanischen SS in den Nie­derlanden´ dorthin zurück. Zwei Jahre zuvor hatte die Wehrmacht das Land besetzt. Die Deutschen hatten zunächst eine Militärverwal­tung errichtet, neben die jedoch schon bald eine Zivilverwaltung trat. An deren Spitze wurden SS-Funktionäre berufen. Zur Jahres­wende 1942/43, als sich der Krieg im Osten zugunsten der Sowjet­union zu entwickeln schien, mach­ten sich die ersten Widerstandsgrup­pen bemerkbar.

Neben den sich häufenden Angriffen auf militärische Anlagen gab es immer mehr Attentate auf hoch­gestellte Beamte oder Politiker, die als deutschfreundlich bekannt wa­ren. Oder auf Holländer, die kraft ih­rer Stellung im öffentlichen Leben notwendigerweise zusammenarbeiten mussten und siech  dabei loyal verhielten(…).

(…) Heinrich B(…) war Mitglied des „Sonderkommando Feldmejer". Nach Kriegsende wurde er im Mai 1945 verhaftet. Man habe ihm gesagt, bei den unschuldigen Opfern würde es sich um terroristische Wi­derstandskämpfer handeln, soll B(…) gesagt haben, als er die Tötungen im Polizeiverhör gestand. Einige Wochen später jedoch konn­te er fliehen, tauchte im Bereich Aachen unter und arbeitete als Berg­mann. In Abwesenheit wurde B(…) am 18. Oktober 1949 vom Sonder­gerichtshof Amsterdam unter ande­rem wegen mehrfachen Mordes zum Tode verurteilt. Da die Todesstrafe nicht innerhalb von fünf Jahren vollstreckt werden konnte, wur­de sie automatisch in eine lebenslan­ge Freiheitsstrafe umgewandelt.

Die letzte „Chance“, diesen „Täter“ zur Verantwortung zu ziehen, vergab nun letztmals vor wenigen Monaten das Oberlandesgericht Köln. Nach juristischer Sachlage konnte es wohl auch gar nicht anders. Der „SS-Scherge“ lebt weiterhin unbeschwert an der deutsch-niederländischen Grenze – auf deutschem Boden. Es stört ihn offenbar nicht, dass sein Portrait groß und farbig im Kölner Stadt-Anzeiger vom 10. September 2007 gezeigt wird. Der Journalist Detlef Schmalenberg tat gut daran, diesen Fall detailliert darzustellen.

2. Ein Täter von der NS-Ordensburg Krössinsee

Der gedankliche Transfer von dem SS-Mann Heinrich B(…) zu Gerhard E(…), einst  Kameradschaftsführer an der Ordensburg Krössinseee, führt zu meiner eigentlichen Fragestellung: „Wurden auf der NS-Ordensburg Vogelsang 'Täter und potenzielle Massenmörder' ausgebildet?“ Vorgestellt werden soll ein ehemaliger Sportlehrer, der von 1937 bis Kriegsbeginn Kameradschaftsführer in dieser nationalsozialistischen Institution war, dann aber von August 1941 bis Juli 1944 als  Gebietskommissar und politischer Leiter der NSDAP in Slonim (Weißruthenien) fungierte. Seine Verbrechen  waren bis 1974 kein Grund, ihn nicht im Schuldienst zu beschäftigen.

Meine Arbeiten am Buch Judenverfolgung und Fluchthilfe… sowie die Kontakte zu dem ehemaligen Leiter der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg – den einstigen  Staatsanwalt Willi Dreßen –, führten mich schnell zu dem Thema „Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer“. In seinem gleichnamigen  Buch (Frankfurt 1988) werden  Gerhard E(…) und seine Tätigkeit „im Osten“ dargestellt. Erneut soll konstatiert werden, dass auf dieser Homepage auf die vollständige Namensnennung verzichtet werden soll.

 

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Lokalausgabe Schleiden des Westdeutschen Beobachters, Herbst 1937

 

In dem Lagebericht dieses Gebietskommissars vom 25. Januar 1942 ist von groß angelegten Judenerschießungen die Rede, für die Gerhard E(…) die Verantwortung trug. Der Grund hierfür war die Absicht, die Stadt Slonim von „Juden zu befreien“, um für das nachrückende deutsche Personal und die SS-Einheiten „Platz zu schaffen.“ Das abschließende Statement des ehemaligen Krössinsee-Junkers lautete: „Die Aktion befreite mich von unnützen Fressern“ (S.167)

Der Autor Willi Dreßen, der sich während seiner Tätigkeit bei der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen auf einen immensen Fundus von Akten und Zeugenaussagen stützen konnte, gibt den erwähnten „Lagebericht“ wieder. Dort heißt es u.a. auf Seite 168:      

Bei meiner Ankunft zählte das Gebiet Slonim ca. 25000 Juden, davon allein in der Stadt Slonim ca. 16000, also über zwei Drittel der gesamten Stadtbevölkerung. Ein Ghetto einzurichten war unmöglich, da weder Stacheldraht noch Bewachungsmöglichkeiten vorhanden waren. Daher traf ich von vornherein Vorbereitungen für eine künftige größere Aktion. Zunächst wurde die Enteignung durchgeführt und mit dem anfallenden Mobilar und Gerät sämtliche deutsche Dienststellen einschließlich Wehrmachtsquartiere ausgestattet. [...] Für Deutsche unbrauchbares Zeug wurde der Stadt zum Verkauf an die Bevölkerung freigegeben und der Erlös der Amtskasse zugeführt. Dann folgte eine genaue Erfassung der Juden nach Zahl, Alter und Beruf, eine Herausziehung aller Hand­werker und Facharbeiter, ihre Kenntlichmachung durch Ausweise und gesonderte Unterbringung. Die vom SD am 13.11. durchgeführte Aktion befreite mich von unnötigen Fressern; und die jetzt vorhandenen ca. 7000 Juden in der Stadt Slonim sind sämtlich in den Arbeitsprozeß eingespannt, arbeiten willig aufgrund ständiger Todesangst und wer­den im Frühjahr genauestens für eine weitere Verminderung überprüft und aussortiert.

Die Biographie des Täters, der nach dem Kriege in Norddeutschland die deutsche Jugend zur Demokratie und zum Respekt vor dem Menschenleben erziehen sollte, lautet nach Willi Dreßen (Seite 257):

Erren, Gerhard: Sportlehrer. Seit 1931 Nationalsozialist, konnte zu­nächst nicht Parteimitglied werden (offizieller Eintritt 1.5.1933), weil er dem Grenzschutzfreikorps »Oberschlesische Landesschützen« ange­hörte, das der Reichswehr unterstand. 1933/34 an einer Gausportschule in Oberschlesien. Ab 1934 hauptamtlicher politischer Leiter der NSDAP. Von 1937 bis Kriegsbeginn Kameradschaftsführer an der Ordensburg Krössmsee. Von Aug. 1941 bis Juli 1944 Gebietskommissar und politi­scher Leiter der NSDAP in Slonim (Weißruthenien). Am 2.3.1944 in die SS aufgenommen und zum Sturmbannführer ernannt. Febr. 1945 Füh­rer für weltanschauliche Schulung (Durchhalteparolen) bei der Waffen-SS. 1950 Übernahme in den Hamburger Schuldienst. 1960 vom Dienst suspendiert. Zwischen 1961 und 1971 Lehrer an Privatschulen. Das LG Hamburg verurteilte ihn 1974 zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe. Im Ur­teil wird E. als »Herrenmensch« charakterisiert, der mit Hund und Peit­sche durch Slonim ging und in aller Öffentlichkeit auf Juden ein­schlug.

3. Von der Ordensburg Vogelsang zum Konzentrationslager Zwolle

Schon in meiner ersten Abhandlung über die Frage nach den „Tätern und potenziellen Mördern der Ordensburgen“  hatte ich darauf hingewiesen, dass nicht nur im Osten, sondern auch im Westen ehemalige Angehörige der Ordensburgen vereinzelt gerichtlich verfolgt oder gar entlastet(!!) -  wurden. In meinem Online-Beitrag erwähnte ich einen Lehrer der Ordensburg Vogelsang, der in meinem Standardwerk Ordensburg Vogelsang 1934-1945 – Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich auch namentlich genannt wird. Er ist ein Beweis dafür, dass sich auch einige Angehörige der Ordensburg Vogelsang im Sinne des national-sozialistischen Terrors hervorgetan hatten. Einleitend gab ich folgenden Überblick:

Ein Beispiel dafür ist der Bereitschaftsleiter und Lehrer für Rassenkunde, Dr. Werner Schw(…), nach dem ab 1946 wegen Mordes gefahndet wurde. Ab 1941 war er Kommandant des kleinen Konzentrationslagers Ommen bei Zwolle in der niederländischen Provinz Overijssel. Dort wurden mehr als zwei Dutzend Häftlinge zu Tode geprügelt. Von Anfang 1944 an leitete Werner Schw. die Jagd auf niederländische Widerstandskämpfer, von denen einige von ihm persönlich oder auf seine Veranlassung hin ohne Gerichtsverfahren erschossen worden sind. Der einstige Gaureferent auf Vogelsang konnte erst nach langen Recherchen gefunden werden.

Wissenschaftliche Recherchen im In- und Ausland ergaben, dass etwa 15 Junker der beiden Ordensburgen Krössinsee und Vogelsang  gerichtlich – und langjährig (!!!) – zur Verantwortung gezogen werden sollten. Mehr als die Hälfte von ihnen wurden mangels Beweise freigesprochen. Ja, es gab sogar Entlastungen!

 

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Eine Kameradschaft von „Junkern“ (Führeranwärter) auf der Ordensburg Vogelsang. Entnommen dem Standardwerk von Hans-Dieter Arntz „Ordensburg Vogelsang 1934-1945 - Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich“, Euskirchen 1986, Seite 103.

 

Wie sah jedoch die Sachlage bei Dr. Werner Schw(…) aus, einem pausbäckigen Brillenträger, der auf den Fotos leutselig scherzend gezeigt wird:

1940 war Dr. Werner Schw(…) (1907-1971), nach seiner Tätigkeit als Bereitschafts­führer der Ordensburg Vogelsang und dann Mitarbeiter am Amt Lehrwesen des Hauptschulungsamtes der NSDAP, in die besetzten Niederlande abkommandiert worden. Von 1941 an war er Kommandant des kleinen Konzentrationslagers Ommen bei Zwolle in der Provinz Overijssel. In diesen Lagern wurden mehr als zwei Dutzend Häftlinge zu Tode geprügelt. Das frühere „Sterkamp" in Ommen gehörte zum Besitz der Theosophischen Vereinigung in den Niederlanden, wo u. a. auch Krishnamurti in den 20er Jahren gelehrt hatte. Werner Schw(…) gehörte zum Referat „Internationale Organisationen" und hatte die Aufgabe, das genannte „Sterkamp" zu liquidieren. Wenn auch der einstige Pädagoge nicht täglich im Lager anwesend war, so geht aus den Akten der Niederländischen Justiz Beteili­gung und Verantwortlichkeit für vieles klar hervor. Von Anfang 1944 an leitete Werner Schwier die Jagd auf niederländische Widerstandskämpfer, von denen einige von ihm persönlich oder auf seine Veranlassung hin ohne Gerichtsverfahren erschossen worden sind.

Gegen die niederländischen Wachmannschaften des Lagers hatte die Justiz eine Reihe von Verfahren durchgeführt. Damals konnte der einstige Gaureferent mit Lehrauftrag an der Ordensburg Vogelsang nicht gefasst werden. Mitte der 60er Jahre stellte die niederländische Regierung auf Bitten der Bundesrepublik Deutschland eine Liste von den Deutschen zusammen, die sich in der Zeit von 1940 bis 1945 in den Niederlanden mutmaßlich an Verbrechen mit Todesfolge schuldig gemacht hatten. In dieser Liste erschien Dr. Werner Schw(…) wegen Misshandlung mit Todesfolge von Häftlingen und wegen einer Erschießung in der Nähe von Ommen im letzten Kriegswinter. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg erhielt alle Unterlagen der niederländischen Justiz. Die Staatsanwalt­schaft beim Landesgericht Essen, Bochum und Koblenz ermittelte gegen ihn.

In der Hoffnung, dass es doch irgendwann einmal zu einem Archiv und Dokumentationszentrum der  Burg Vogelsang kommt, weise ich auf die wesentlichen Gerichtsverfahren hin, die ich in meinem Buch „Ordensburg 1934-1945…“ auf Seite 253 aufgelistet habe.

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