Über die Würde und Gnade, Bergen-Belsen und den Holocaust zu überleben – Shmuel Emanuel (Israel): „Wir haben uns immer erhoben und erhalten“

von Hans-Dieter Arntz
27.01.2010

Zur Persönlichkeit des jüdischen Augenzeugen Shmuel Emanuel

Wer mit beinahe 83 Lebensjahren so ruhig über sein jüdisches Schicksal sprechen und schreiben kann und dem Holocaust entkommen konnte, der muss eine besondere Persönlichkeit sein. Shmuel („Sam“) Emanuel war im holländischen Lager Westerbork und in Bergen-Belsen, fand aber gerade hier vollends zum Glauben. Ob das der Grund ist, weshalb er überleben konnte, bleibt sein Geheimnis. Tatsache ist es jedoch, dass Shmuel heute eine beeindruckend große Familie und Verwandtschaft hat, die ich bereits in meinen NEWS vom 31. Dezember 2009 kurz vorstellte. Alle Mitglieder sind im jüdisch-orthodoxen Glauben verwurzelt.

 

Emanual Großfamilie

Das aktuelle Familienfoto drückt Zuversicht und Stolz aus. Einen Teil seiner Angehörigen hatte Shmuel Emanuel
in Bergen-Belsen verloren. „Ich habe sechs prachtvolle Kinder und 37 Enkelkinder, alle sind orthodox und wohnen
in Israel.“
Die Unterschrift des Familienbildes basiert auf den letzten Wörtern von Psalm 128: „ ... Und siehe: Kinder
Deiner Kinder. Frieden über Israel“.

 

Um die religiöse Haltung von Sam zu erklären, zitiere ich noch einmal seine persönlich gehaltene Beschreibung des beigefügten Fotos, das er mir zum Jahresende schickte und Zuversicht und Stolz ausdrückt. „Ich habe sechs prachtvolle Kinder und 37 Enkelkinder, alle sind orthodox und wohnen in Israel.“ Die Unterschrift des Familienbildes basiert auf den letzten Wörtern von Psalm 128: „ ... Und siehe: Kinder Deiner Kinder. Frieden über Israel“.

Im Verlauf meiner Recherchen in Israel nahm Sam den Kontakt mit mir auf. Wie Hetty Verolme (geb. Werkendam), Shlomo Samson und einige andere wichtige Zeitzeugen hatte er das danteske Inferno des Heidelagers bei Celle überlebt und war bereit, mir über Josef Weiss, den letzten Judenältesten von Bergen-Belsen (Dezember 1944 bis April 1945), Auskunft zu geben. Mit folgenden Worten wandte er sich im Sommer 2009 an mich:

„Ich kann mich gut an Josef Weiss, den Judenältesten von Bergen-Belsen erinnern. Ich bin einer der wenigen Menschen des Sternlagers, die noch bei der Befreiung im April 1945 in Bergen-Belsen waren. Darum kann ich mich auch besonders gut daran erinnern, wie zum Beispiel der SS-Bandit, der „Rote Müller", gezwungen wurde, sich am Begraben der vielen tausend Leichen zu beteiligen (...).

Jeder, der die schrecklichen Appelle in Bergen-Belsen mitgemacht hat, erinnert sich aber auch an Jupp Weiss, der dabei den SS-Feldwebel begleiten musste. Stundenlang mussten wir bei jedem Wetter ausharren, wenn die Zahlen der Lagerinsassen nicht stimmten. Jupp hat auch hier für uns alles getan, um dieses Problem zu lösen(...).“

"Beerdigung" Bergen Belsen

Bergen-Belsen nach der Einnahme durch
die Engländer (Foto: Imperial War Museum, London)

Obwohl formell sein inzwischen verstorbener Bruder Yona Emanuel als Autor des beachtenswerten Buches „Dignity To Survive“ genannt wird, ist Shmuel der Mitverfasser und wird auch so im Impressum der Hebrew sowie der englischen Ausgabe aufgeführt.

Der aus Hamburg stammende jüdische Zeitzeuge und Buchautor Shmuel („Sam“) Emanuel lebt heute mir seinen vielen Angehörigen in Israel. Im Kibbutz Sha`alavim D.N. Shimshon kennt man sein Schicksal, aber auch ihn selber als strenggläubigen, orthodoxen Juden. Er wurde am 17. Februar 1927 geboren, verließ mit seiner Familie Ende 1933 das nationalsozialistische Deutschland und verbrachte seine Jugend anfangs in Utrecht, 1935 bis 1940 in Rotterdam und dann wieder bis 1943 in Utrecht.

Im April desselben Jahres waren Existenz und Leben der vielköpfigen Familie durch die Repressalien und Verfolgungen der Nazis derart gefährdet, dass die Eltern mit ihren 8 Kindern „untertauchten“. Doch bereits nach zwei Monaten wurden sie entdeckt und von der holländischen Polizei verhaftet. Ihr Schicksal schien besiegelt, als sich die Chance zur Rettung anbot.

Dadurch dass sie einen Pass für die Ausreise nach Paraguay vorweisen konnten, wurden sie freigelassen, aber 4 Wochen später doch endgültig von der Gestapo verhaftet. Wegen der Kriegsverhältnisse kam es nicht zur Passage nach Südamerika, und die Gestapo verhaftete sie endgültig. Ihr vorläufiges Schicksal ähnelte dem vieler jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und dem von Josef Weiss aus Euskirchen-Flamersheim: von Juli 1943 bis Januar 1944 Aufenthalt im Lager Westerbork, dann von Februar 1944 bis April 1945 in Bergen-Belsen.

Das niederländische KZ-Sammellager galt nominell als „polizeiliches Juden-Durchgangslager“ und täuschte als „Kamp Westerbork“ eine nur eingeschränkte Freiheit vor. In Wirklichkeit war es ein von den nationalsozialistische Besatzern geführtes zentrales Durchgangslager[1] (KZ-Sammellager) und gedacht für die Deportation niederländischer und der sich in den Niederlanden aufhaltenden deutschen Juden.

 

Westerbork

Passage aus dem Buch „Dignity to Survive“, S.128/129

 

In der Hebrew Ausgabe „Yesupar LaDor“ (1994) sowie der englischsprachigen Ausgabe „Dignity To Survive“(1998) schildern die Brüder Yona und Shmuel Emanuel nicht nur ihre Familiengeschichte, sondern auch das Dahinvegetieren und Sterben in Bergen-Belsen, wo die Eltern, drei Brüder und eine Schwester verhungerten.

An anderer Stelle habe ich bereits ein Beispiel beschrieben, wie sich jüdischer Glaube im Holocaust manifestierte. Am Beispiel des aus Euskirchen stammenden Karl Schneider konnte ich das jüdisch-religiöse Leben im Ghetto von Riga detailliert darstellen und mehrfach publizieren. Eine teilweise Übersetzung ins Italienische besorgte Dr. Wolf Murmelstein, Sohn des letzten Judenältesten von Theresienstadt Dr. Benjamin Murmelstein.

Und wie überrascht war ich, als ich in Shmuels Buch „Dignity To Survive“ ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum jüdisch religiösen Leben im Holocaust erkannte. Dabei wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn auch er nach den Leiden und dem Terror während der Shoah vom Glauben abgefallen wäre.

Zum Buch „Dignity to Survive“ von Yona und Shmuel Emanuel

Dignity to survive

Titelbild des Buches „Dignity to
Survive“ von Yona und Shmuel
Emanuel

In der Zeitschrift „Jewish Action“ (Frühlingsausgabe 5761/2001) wird sein Buch von der amerikanischen Judaistik-Professorin Judith Bleich unter der Überschrift „Faith in the Shadow of Death“  einleitend unter diesem Aspekt besprochen:

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That people lost their faith during the terrible years before, during, and in the aftermath of the Second World War comes as no surprise (...). When millions of Jews and members of other ethnic groups perished, victims of an inhuman and brutal Nazi regime, it is surely understandable that, confronted by the inexplicable catastrophe, many individuals found themselves plagued by religious doubt and theological bewilderment. What is, in a sense, more astonishing is the unshakeable belief and rock-fast loyalty to Torah and mitzvot of those staunch and stalwart Jews who clung unwaveringly to their traditions and in whose hearts burned such love for God and Torah, that from the bunkers of the death camps their voices swelled in the words of Ani Maamin expressing the defiant conviction of every one of them that redemption was inevitable, and "even though [the redeemer] may tarry, nevertheless, each day I await his Coming."

Shmuel Emanuel hat seine Einstellung zum Leben und zum Glauben mit dem Buchtitel KAMNU WANITODAD („Wir haben uns immer erhoben und erhalten", Psalm 20, 9) beschrieben. Der Untertitel seines Buches „Dignity to Survive“ lautet bescheiden „One Family's Story of Faith in the Holocaust“, der im Grunde genommen die Auskunft darüber verspricht, wie seine gesamte Familie durch den Holocaust im jüdischen Glauben gewachsen ist. Die vielen Beispiele bezüglich Westerbork und Bergen-Belsen sind somit nicht nur eine historische, sondern auch religiöse Aussage. Ergo ist sein Buch ein sehr persönliches Bekenntnis, bestehend aus Briefen zu Verwandten in der Schweiz, aus Dokumenten und wichtigen Fotos. Aber besonders die jüdisch-religiöse Darstellung im Holocaust macht den eigentlichen Wert des Buches aus.

Nach der Rückkehr von Bergen-Belsen und seiner Genesung in Nijmegen suchte Shmuel seine ehemalige Wohnung in Utrecht auf, hob die Holzdielen hoch und begann, die dort versteckten „Sefarim“ zu bergen. Diese Heilgen Bücher sollten damals nicht in die Hände der Nationalsozialisten fallen. Sie hatten, wie auch Shmuel und sein Bruder Yona selber, die Verfolgung und den Holocaust überstanden.

Auch die Tefillin der Familie spielten schon immer eine bedeutsame Rolle, wie sich Sam in seinem Buch erinnert. Auf Seite 96 geht es um einen Brief, den seine Mutter im August 1942 verfasst hatte. Völlig konsterniert war sie über den Befehl der Nazis, dass die aus Holland deportierten Juden ihre religiösen Gegenstände unverzüglich zurückzulassen hätten: "Can you imagine Elchanan, Shlomo, Yona, Shmuel and Baruch without their tefillin ?” Die innigen Gebete der Mutter wurden jedoch erfüllt. Die Tefillin waren am Schluss die einzigen Gegenstände, die ihre überlebenden Söhne stets bei sich behalten konnten und tatsächlich trotz der Hungersnot und den unsäglichen Qualen in Bergen-Belsen mit in die Freiheit retten konnten. Das war im April 1945.

Prof. Judith Bleich zitiert die Stelle, derzufolge eine russische Krankenschwester dem totkranken Yona einen nur noch schwach geäußerten Wunsch erfüllte, nämlich seine total verschmutzen Tefillin aus dem Abfall herauszuholen:

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Upon liberation, Yona Emanuel and his sister Bella found themselves near the village of Troebits (Tröbitz/d.A.) in southeast Germany. They suffered from typhus and diarrhea and were incapable of retaining food. Gravely ill, Yona was taken to a field hospital where he was cleaned and shaved by a German barber who, after throwing his filthy clothing into a corner, wrested from him the tefillin he was holding and cast them upon the pile of dirty laundry. Emanuel was devastated, but too overpoweringly weak to protest. But then, in an amazing development, a Russian nurse clad in army fatigues returned the tefillin to him and sequestered them under his bed Covers.

Shmuels Symbole seiner Frömmigkeit   Shmuel (Sam) Emanuel in Israel mit seinen Töchtern

Shmuels Symbole seiner Frömmigkeit

 

Shmuel (Sam) Emanuel in Israel mit seinen Töchtern

Es ist unmöglich, alle Beispiele aufzuzählen, die symptomatisch für die jüdisch-orthodoxe Familie Emanuel sind. Jedoch ist ein Sachverhalt besonders bewegend und betrifft die Mutter Chana:

 In der Nacht des Shabbat Nachamu des Jahres 1944 wurde Chana vor den Judenrat von Bergen-Belsen geladen, weil sie die Regeln des Lagers gebrochen hätte. Sie hatte an diesem Tag eine Portion Haferbrei für ihr hungerndes, jüngstes Kind gekocht. Gerade an diesem Tag jedoch hatte die deutsche Lagerleitung den Insassen eine Kollektivstrafe auferlegt, und Kochen war grundsätzlich verboten. Der Judenrat von Bergen-Belsen, der bis Dezember 1944 einigermaßen selbstständig fungieren durfte, bestand fast ausschließlich aus jüdischen Honoratioren wie Rechtsanwälten, Richtern und Strafverteidigern.

Im Gegensatz zu sonst war die Verhandlung außerordentlich kurz. Chana Emanuel verzichtete auf ihr Recht, sich zu verteidigen und akzeptierte anstandslos die Bestrafung, die aus einer mehrtägigen Einziehung ihrer Brotration bestand. Als sie später gefragt wurde, warum sie nicht um Gnade gebeten oder ausdrücklich auf die Umstände hingewiesen habe, wies Chana, Yonas und Shmuels Mutter, – selbstbewusst und überzeugend in ihrer jüdischen Frömmigkeit -, darauf hin, dass der „Gerichtsprotokollant“ doch jüdisch wäre! Hätte sie sich verteidigt und ausführlich die Mutter-Kind-Situation dargestellt, hätte der Mann jedes Wort niederschreiben müssen. Diese Arbeit wäre am Sabbat vom Glauben her nicht erlaubt. Sie wollte keineswegs noch zusätzlich den Sabbat schänden - auf Kosten eines Juden.

Yona und Shmuel Emanuel ergänzen in ihrem Buch, dass ihre vom jüdischen Glauben überzeugte Mutter in der Nacht vom Freitag zum Samstag – also am Sabbath – verstarb. Dieses eigentlich erschütternde und doch paradoxe Ereignis fand in dem besonderen Zug statt, der gerade die nur wenigen Überlebenden aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen abtransportierte und dann befreit wurde.

Das eindrucksvolle Werk „Dignity to Survive“ ist ein Zeugnis menschlicher Größe und Würde, die im Überlebenskampf zu wahren, keineswegs selbstverständlich war. Oft kollidierte die jüdische Religiosität mit den Auswüchsen des Menschen vernichtenden Nationalsozialismus. Aber manchmal gab es sogar „kleine Wunder“, wie mir Shmuel am 22. Dezember 2009 schriftlich mitteilte:

Traumatisch sind die Erinnerungen an Westerbork und die vielen Transporte in den Osten. Über die erste Transportnacht, die ich mitmachte, ist in meinem Buch auf den Seiten 136 bis 140 zu lesen. (...) Die religiösen Lagerinsassen hatten schon hier sehr gelitten unter dem Zwang, am Schabbat Arbeiten verrichten zu müssen, da diese nach der jüdischen Religion verboten sind. Manchmal versuchte man, ein Attest zu erhalten, dass man krank sei. Das war damals noch möglich. (...) Doktor Nussbaum gab manchem gläubigen Menschen dann ein Attest, das sie bis zum Sonntag von der Arbeit befreite.

Aber Zufälle – Sam nennt das „kleine Wunder“ – gab es doch hin und wieder. Sie wirkten manchmal wie ein himmlischer Fingerzeig und führten gleichzeitig zur Schadenfreude gegenüber dem Wachpersonal. Sam nannte mir ein Beispiel:

Chanukka 1943 verlebten wir noch in Westerbork. Erst am 1.Februar 1944 wurde ich mit der Eisenbahn nach Bergen-Belsen verbracht. Der Kommandant hatte uns verboten, die Chanukka-Lichter zu entzünden. Ich weiß nicht, warum er diesen sinnlosen Befehl gab. Aber es geschah damals ein neues Chanukka-Wunder, zumindest schien es mir so. Am ersten Abend gingen plötzlich alle elektrischen Lampen und Scheinwerfer aus. Offenbar ein Kurzschluss! Infolgedessen konnten wir doch in den Baracken die Kerzen entzünden!

Selbst wenn dieses Ereignis nur etwas die Hoffnung auf ein Überleben stärken konnte, so war dieser Schimmer doch ein Teil der damaligen und heutigen Lebenseinstellung des heute beinahe 83-jährigen Shmuel Emanuel: „Wir haben uns immer erhoben und erhalten!“ Den Glauben an die Richtigkeit dieser Aussage und die daraus entstehende pädagogische Aufgabe für die Zukunft betont er im Appendix V auf Seite 331 seines Buches „Dignity to Survive“. Hier bezieht er sich auf Avot II, 20-21:

Rabbi Tarfon said: The day is short, the task is great, and the Employer is insistent. He used to say: It is not up to you to complete the work, yet you are not free to desist from it.

Dieser Hinweis sollte allen dienlich sein, die sich mit der pädagogischen, religiösen und historischen Aufarbeitung der Shoah befassen. Hierzu hat Sam aus Israel seinen Beitrag geleistet.

 

DIGNITY to SURVIVE
Hebrew edition published under the name Yesupar LaDor 1994
English edition first published 1998
Copyright © 1998 by Mosad Yitzchak Breuer
ISBN 1-56871-145-
Published by: Targum Press, Inc.
22700 W. Eleven Mile Rd. Southfield, MI 48034
Distributed by: Feldheim Pubiishers
200 Airport Executive Park Nanuet, NY 10954
Distributed in Israel by: Targum Press Ltd.
POB 43170 Jerusalem 91430
Printed in Israel

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