Prof. Dr. Joseph Walk vom Leo Baeck Institut in Jerusalem erinnert sich an
die jüdische Gemeinde von Bad Münstereifel

von Hans-Dieter Arntz
27.02.2007

1.) Anmerkung

Vor 75 Jahren- wenige Tage vor der so genannten Machtergreifung der Nationalsozialisten-, stieg der jüdische Junglehrer Joseph Walk in Bad Münstereifel aus der Eisenbahn, um seiner ersten liturgischen Verpflichtung als Vorbeter nachzukommen. Jahrzehnte später war er Direktor des berühmten Leo Baeck Instituts in Jerusalem, einer unabhängigen Einrichtung zur Dokumentation und Erforschung jüdischer Geschichte und Kultur in den deutschsprachigen Ländern mit Standorten in Jerusalem, London und New York.

Prof. Dr. Joseph Walk (1914-2005) gehörte zu den Persönlichkeiten, die mich bei der Aufarbeitung der jüdischen Geschichte der Eifel und Voreifel jahrelang motivierten und ermutigten. Die langjährige Korrespondenz mit dem Direktor des renommierten Leo Baeck Instituts in Jerusalem und ein persönliches Treffen in unserem Haus in Rheder (1981) trugen zur damals recht brisanten Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung in unserer Region bei. Vor mehr als 25 Jahren war nicht nur die Landbevölkerung bei diesbezüglichen Recherchen misstrauisch und zurückhaltend. Selbst der Rat der Stadt Euskirchen weigerte sich grundsätzlich (1982), die Drucklegung der Dokumentation „JUDAICA – Juden in der Voreifel“ finanziell zu unterstützen. Erst der mediale Protest im In-und Ausland sowie die moralische Hilfe des Nobelpreisträgers Heinrich Böll und des russischen Schriftstellers Lew Kopelew machten die umfangreiche Dokumentation dann doch schnell bekannt, so dass drei Auflagen innerhalb der nächsten Jahre im Kümpel-Verlag erschienen – trotz fehlender Hilfe der desinteressierten Euskirchener Ratsherren.

Im Laufe unseres Treffens führte ich Prof. Walk auch zur ehemaligen Synagoge von Bad  Münstereifel. Hier erinnerte sich der Wissenschaftler bewegt an seine erste liturgische Verpflichtung im Jahre 1932 – vor etwa einem halben Jahrhundert.

Im Jahre 1982 ließ er es sich nicht nehmen, das Vorwort zu meinem Buch „JUDAICA“ zu schreiben und auf die damals hier noch nicht erkannte Bedeutung der Aufarbeitung unserer jüngsten Geschichte  hinzuweisen. Dabei erinnerte er an die kleine jüdische Gemeinde von Bad Münstereifel:

Im Herbst 1932 kam ich zum ersten Mal in meinem Leben in die Eifel. In der schlesischen Hauptstadt Breslau beheimatet, zu jener Zeit Schüler des Kölner jüdischen Lehrerseminars, fand ich mich nur schwer in der ungewohnten, fremden Atmosphäre einer westdeutschen Kleinstadt zurecht. Während der drei Hohen Feiertage, an denen ich als junger Vorbeter in der kleinen jüdischen Gemeinde Münstereifel fungierte, hatte ich Gelegenheit, deren Mitglieder etwas näher kennen zu lernen und mich mit ihren Bräuchen ein wenig vertraut zu machen. Nahezu 50 Jahre später, im Sommer 1981, stand ich mit dem Verfasser des vorliegenden Buches vor dem Haus, an dessen Wand eine Gedenktafel an den zerstörten Betsaal der Münstereifeler Juden erinnert, und versuchte, die Vergangenheit heraufzubeschwören - vergebens. Nur das persönliche Erlebnis wurde wach. Meine Kenntnisse über die in der Eifel wohnenden Juden waren zu lückenhaft, als dass ich mir ein Bild vom Leben und Untergang meiner Glaubensge­nossen machen konnte.

Schon damals spürte ich, mit welcher Liebe und Hingabe sich Hans-Dieter Arntz, mein Reiseführer, um die Erforschung der Geschichte der jüdischen Bewohner der Eifel bemühte und wie weitgehend er - der in der Nachkriegszeit aufgewachsene Deutsche -, sich in die untergegan­gene Welt der jüdischen Mitbürger seiner Heimatstadt Euskirchen und deren Umgebung eingelebt hatte. Aber erst jetzt, nachdem ich mit wachsendem Interesse und unverminderter Spannung seine so präzise, wissenschaftlich fundierte und dabei anschauliche Darstellung gelesen habe, kann ich voll ermessen, welch geistige Anstrengung und seelische Stärke die Niederschrift dieses umfassenden Werkes erfordert hat.

Ich gebe meiner Hoffnung und dem Wunsch Ausdruck, dass die auf dem Hintergrund des allgemeinen Geschehens beschriebenen Einzelschicksale dem unvoreingenommenen Leser das erschütternde letzte Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte näher bringen wird. Dann hätte diese Arbeit ihre doppelte Aufgabe erfüllt: die Opfer vor dem Vergessen zu bewahren-, den noch Lebenden und Nachgeborenen als Warnung zu dienen.

Jerusalem, September 1982,

Prof. Dr. Joseph Walk

vor den Hohen Feiertagen

Direktor des Leo Baeck Instituts Jerusalem

 

2.) Biographie von Prof. Dr. Joseph Walk

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links: Judaica-Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983
rechts: Prof. Dr. Joseph Walk in Euskirchen (Rheder) im Jahre 1981.

Joseph Walk wurde am 27. Januar 1914 in Breslau geboren. Er verbrachte dort auch seine Jugend. Nach dem Abitur am Breslauer Reformgymnasium (1932) studierte er 1932/33 am jüdischen Lehrerseminar in Köln und nahm danach eine Lehrtätigkeit an der jüdischen Volks- und Höheren Schule in Breslau an. Ehe er 1936 nach Erez Jisrael emigrierte, wo er  fünf Jahre lang als Pädagoge und Lehrer in Gruppen der religiösen Jugendaliya wirkte, war er Erzieher an der Rabbinischen Lehranstalt in Frankfurt/Main.

Ab 1942 war er Lehrer in Sde Yaacov,  1947/48 Direktor eines Internats für jüdische Flüchtlingskinder in Belgien, von 1948 bis 1951 wieder in Sde Yaavov sowie Lehrer an der Höheren Schule in Afula. In der Zeit von  1952 bis 1954 übte er die Tätigkeit als Schulinspektor aus. Danach studierte er Pädagogik und jüdische Geschichte in Jerusalem. Während dieser Zeit war er zugleich Lehrer am Lehrerseminar in Haifa, dann Direktor des religiösen Lehrerinnenseminars in Tel Aviv, von 1958 bis 1964 in derselben Funktion am Lehrerinnenseminar in Jerusalem. Von 1964 bis 1981 lehrte er als Dozent für Pädagogik an der Bar Ilan-Universität in Ramat Gan. Hier wurde er 1973 zugleich Leiter des an dieser Universität neu gegründeten Instituts für die neuere Diaspora-Geschichte des jüdischen Volkes. Er engagierte sich am Holocaust-Dokumentationszentrum Yad Vashem in Jerusalem. Von 1978 bis 1982 und nochmals nach 1992  leitete er das Leo Baeck Institut in Jerusalem.

Joseph Walk war einer der Mitbegründer der religiös-zionistischen Friedensbewegung "Os we Shalom", als deren Vorsitzender er für einige Jahre fungierte. Als bewusster Gegenpol zur Siedlungspolitik von "Gusch emunim" erklärte "Os we Schalom" den Erwerb und Besitz des eroberten Landes „nicht aus dem Ratschluss Gottes“. Seit 1983 gehörte Walk bis Anfang der 1990er Jahre zum Kreis der renommierten Lehrer und Dozenten des Klosters Denkendorf, dem der Verfasser dieses Beitrags die vorliegende Biographie verdankt.

Prof. Dr. Joseph Walk trug viel zum Verständnis zwischen Christen und Juden bei. Er war Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille (1996), die von den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit für besondere Verdienste vergeben wird.

3.)  Erinnerung an die jüdische Gemeinde von Bad Münstereifel

Als der Direktor des Leo Baeck Instituts im Sommer 1981 mit mir durch die Orchheimerstraße ging, erinnerte er sich an seine Junglehrerzeit und seine erstmalige Funktion als jüdischer Vorbeter. Doch fiel es ihm anfangs schwer, das ehemals unscheinbare Fachwerkhaus in der heute sehr belebten Einkaufsstraße des Kurortes Bad Münstereifel wieder zu erkennen. Damals fragte er mich unvermittelt: „Wissen Sie eigentlich, was Sargenes bedeutet?“ Ich wusste es nicht.

Es folgte eine anschauliche Erklärung und eine Erzählung, die er mir später in einem Brief  zuschickte. Ich bat ihn, den Text zu publizieren, weil ich in ihm einen Beitrag zur Geschichte des Judentums in der Eifel sah. Tatsächlich erfolgte ein Abdruck im „Mitteilungsblatt des Irgun olei Maokan Europa“, Jg. 59, Nr.71, Juli/August 1991, S.3. Die Resonanz bei den Mitgliedern  der „Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa“ war ausgesprochen gut, so dass eine weitere Veröffentlichung in der „Allgemeine Jüdische Wochenzeitung“ vom 1.9.1994 in Deutschland erfolgte. Ich hatte die Ehre, in beiden Artikeln namentlich erwähnt zu werden. Eine Fotokopie schickte mir Prof.Dr.Walk „in dankbarer Erinnerung“ zu.

Seine „Reminiszenz an Rosch Haschana 5693 (1932)“ bezieht sich auf das jüdische Neujahrsfest, das Ende September oder in der ersten Hälfte des Oktober gefeiert wird. An „Rosch ha-Schanah“ beginnen die zehn Yamin Noraim (hebräisch „ehrfurchtsvolle Tage“), die mit dem Versöhnungsfest Jom Kippur enden. Grundsätzlich soll darauf hingewiesen werden, dass das Reformjudentum, der liberalste Teil des Judentums, generell nur den ersten Tag des Festes feiert. Orthodoxes und Konservatives Judentum respektiert sowohl den ersten wie auch einen zweiten Feiertag.  

Es folgt der Text von Joseph Walk:

„Sargenes ist vorhanden"
Eine Reminiszenz an Rosch Haschana 5693 (1932) in Bad Münstereifel

 

Im Jahr 1932, dem letzten Jahr der veren­denden Weimarer Republik, erhielt ich meine Ausbildung als Volksschul- und Religionslehrer am Jüdischen Lehrerseminar in Köln. Zu den Obliegenheiten eines jüdischen Lehrers gehörte auch - vorausgesetzt dass er eine Stelle in einer kleinen Landgemeinde antrat, die Funktion des Vorbeters. So wurden wir mit der Liturgie des jüdischen Jahres vertraut gemacht und noch vor Abschluss unserer Studien für fähig erachtet, an den Hohen Feiertagen das Amt des Vorbeters in einer Landgemeinde zu übernehmen.

Kurz vor Rosch Haschana erhielt auch ich, auf Empfehlung des Seminardirektors, eine offizielle Einladung, an den „Jomim Noroim" in Bad Münstereifel, unweit von Köln, vorzubeten. Die für diese Tätigkeit ausgesetzten 60 Mark entsprachen ungefähr meinen monatlichen Unterhaltskosten, die ich damals nur schwer aufbringen konnte.

Die vom Vorsitzenden der Gemeinde, Andreas Kaufmann, unterschriebene Karte enthielt aber  noch einen mysteriösen Satz: „..Sargenes ist vorhanden". Dieses Wort war mir als in Ostdeutschland aufgewachsenem Kandidaten vollkommen fremd. Frau Rabbiner Carlebach  klärte mich auf: „Sargenes ist der im Rheinland übliche Begriff für „Kittel“, das Sterbegewand, das der Vorbeter an den Hohen Feiertagen anzulegen hat. In dieser Hinsicht konnte ich also beruhigt sein.

Doch das mir so fremd klingende Wort verstärkte in mir die Befürchtung, ob ich, an die Niggunim   meiner Breslauer Synagoge ge­wöhnt, den Erwartungen der Eifeler Juden gerecht werden könnte, zumal auch der westdeutsche Ritus von dem östlichen erheblich abwich. Bangen Herzens traf ich am Erew Rosch Haschana auf dem Bahnhof in Münstereifel ein, wo mich der Gemeindevorsteher, ein breitschultriger, kräftiger Viehhändler, erwartete. Nachdem ich mich von seiner jovialen Begrüßung erholt hatte - er klopfte mir wohlwollend auf die Schulter, begaben wir uns auf den Weg zu dem im zweiten Stockwerk eines Wohnhauses gele­genen Betraum, der der kleinen Gemeinde (48 Seelen) als Synagoge diente.

 Zu meiner großen Erleichterung fragte mich mein Be­gleiter, ob ich vielleicht bereit wäre, das Mussafgebet an zwei ältere, angesehene Mitglie­der der Gemeinde abzutreten und mich mit Maariw und Schacharit zu begnügen. Und ob es mir andererseits möglich wäre, einer Auf­forderung des Preußischen Landesverbandes Jüdischer Gemeinden nachzukommen und in meiner Predigt den Reichspräsidenten Hindenburg zu seinem 85. Geburtstag, der auf den zweiten Tag Rosch Haschana fiel, gebührend zu würdigen. Ich bejahte. Noch vor dem Maariwgebet wurde ich von den vollzählig erschienenen männlichen Mitgliedern der Gemeinde herzlich begrüßt, so dass ich meine anfängliche Scheu überwinden konnte. Zu den Mahlzeiten war ich bei dem Gemeindevorstehereingeladen, begnügte mich aber lieber mit meiner eigenen Kost, da ich mich auf die Kaschrut meiner Gastgeber nicht verlassen konnte, was aber unseren freundschaftlichen Beziehungen keinen Abbruch tat.

Endlich war ich dann nachts in dem kleinen, sauberen Zimmer eines Gasthofes mit mir allein. Meine Gedanken hingen zunächst dem elterlichen Haus und dem mir vertrauten Gottesdienst unserer Breslauer konservativen Synagoge nach. Doch nach wenigen Minuten gab ich mich dem beruhigenden Rieseln des Baches hin, der unter meinem Fenster dahin floss. Die innere Ruhe und Sicherheit, die mich überkamen, spiegelten mir und meinen Zuhörern in den folgenden zwei Tagen eine äußere Ruhe und Sicherheit vor, die mir die Worte für meine durchaus ehrlich gemeinte Würdigung des von uns Ju­den damals noch hochgeachteten Reichsprä­sidenten eingaben. Mit dem „Sargenes" angetan, erfüllte ich also die übernommene Verpflichtung, vorzubeten und zu predigen.

In dem mit später vom Vorsteher der jüdischen Gemeinde Münstereifel ausgestellten Zeugnis bestätigt Andreas Kaufmann, dass ich „als Vorbeter und Prediger" tätig war. „Wir waren mit ihm sehr zufrieden."

Ich vermute, dass auch ich selbst mit mir zufrieden war und nehme mit Gewissheit an, dass die Beter und Zuhörer mit sich zufrieden waren. Wer konnte schon damals ahnen, dass nur wenige Monate später, am 1. April 1933 die jüdischen Kaufleute und Viehhändler of­fiziell boykottiert und ihre wenigen verblie­benen Kunden an den Pranger gestellt würden?

Den fünf Jahre später organisierten Pogrom, die sogenannte „Kristallnacht" in Münstereifel dokumentiert  der nichtjüdische Chronist wie folgt  (Vgl. Hans- Dieter Arntz: JUDAICA -  Juden in der Voreifel, Euskirchen 1983):

Die Geschäftshäuser von Hugo Wolff, Carl und Oskar Nathan sowie die Wohnungen von Andreas Kaufmann und Adolf Wolff waren die Ziele der Zerstörungswut... Fast die ge­samte Wohnungseinrichtung von Andreas Kaufmann ... wurde von Münstereifelern in die schmale Erft, den Dorfbach, geworfen.

Zwei Seiten später heißt es:

Die Synagoge an der Orchheimerstraße wurde geschändet. Zu weiteren Brandstiftungen kam es nicht, weil man mit Recht eine Gefahr für die ganze Stadt befürchtete.

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Die Synagoge in der Orchheimerstraße von Bad Münstereifel (1932). Rechts davon das ehemalige Kaufhaus Simon Wolff. (Repros: Kolvenbach und Arntz)
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Andreas Kaufmann wurde in der „Kristallnacht“ (10.11.1938) verhaftet und nach Köln-Brauweiler gebracht. 1939 konnte er mit seiner Familie nach England und dann in die USA auswandern.

Die Täterliste enthält die Namen von 13 Einheimischen, die wahrscheinlich im Herbst 1932 noch ihre jüdischen Nachbarn zu ihren Feiertagen beglückwünscht hatten. Jetzt, im Jahre 1938, vergriffen sie sich an den heiligen Kultgegenständen, und sicher fiel ihnen der „Sargenes" in die Hände.

Dem in der Pogromnacht verhafteten Andreas Kaufmann gelang es noch 1939, mit seiner Familie in die USA auszuwandern. Andere Mitglieder der Gemeinde endeten 1942 in den Gaskammern, ein Tod ohne Grab, und ohne „Sargenes".

Im Sommer 1981 stand ich dann wieder in Münstereifel - vor dem Wohnhaus auf der Orchheimerstraße, mit seinem Betsaal, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben vorgebetet hatte. Nur eine kleine, kaum sichtbare Tafel erinnert daran, dass sich hier einstmals eine Synagoge befand, in der ein „Sargenes" vorhanden war. Wenige Wochen später stand ich in Jerusalem am Rosch Haschana, mit dem „Kittel" bekleidet, im Gebet. Eingedenk des Geschehens und Geschehenen durfte ich mich als glücklich preisen: „Sargenes ist vorhanden."

Zugleich aber ging mir auf, dass diese Worte auch die an uns alle gerichtete Mahnung enthalten, dass am Rosch Haschana entschieden wird, „wer zum Leben und wer zum Tode" eingeschrieben wird. Sie rufen uns warnend ins Gedächtnis: „Sargenes ist vorhanden."

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