Die „Kristallnacht“ in der Gemeinde Weilerswist:
120 Anzeigen wegen Plünderungen in Lommersum

von Hans-Dieter Arntz
14.06.2007

Die Weilerswister Gesamtschule will die „Nazi-Gräueltaten haarklein aufarbeiten“, so berichtet die Lokalausgabe Euskirchen der Kölnischen Rundschau am 11. Juni 2007. „Stolpersteine werden Unterrichtsthema“ und sollen zur Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte in der kleinen Voreifel-Gemeinde aufrufen. „Die Schüler werden dazu Spurensuche betreiben und sich mit dem Leben im Dritten Reich  verfolgter und ermordeter Weilerswister auseinandersetzen“.

Dieses lobenswerte Projekt läuft seitdem in Weilerswist.

In diesem Zusammenhang werden sich die Gesamtschüler wahrscheinlich auch mit der Pogromnacht 1938 befassen, die ich in meinen Büchern JUDAICA – Juden in der Voreifel und Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet am Beispiel des Dörfchens Lommersum dargestellt habe. Der Ort, der zur Gemeinde Weilerswist gehört, ist wahrscheinlich einzigartig in Bezug auf die Konsequenzen der „Kristallnacht“, da hier nicht nur fast jeder zweite Dorfbewohner wegen Diebstahl angezeigt wurde, sondern auch das Gericht sofort drakonische Gerichtsurteile aussprach. In dem folgenden Beitrag geht es um viele Strafanzeigen und Zeugenaussagen sowie Gerichtsurteile. Er soll zudem exemplarisch auf den jüdischen Kaufmann Willy Kain hinweisen, dessen Verfolgung bei der „Kristallnacht in Lommersum“ begann. Eine Forderung der Weilerswister Gesamtschüler könnte also künftig lauten:  Ein „Stolperstein“ für den jüdischen Kaufmann Willy Kain aus Lommersum!

Die Fußnoten in den vorliegenden Textauszügen sind meinen Büchern zu entnehmen: 

1.)  „JUDAICA – Juden in der Voreifel“, Euskirchen 1983, 3. Auflage 1986, S. 276-277

Die markanteste Persönlichkeit der Juden in LOMMERSUM war Willy Kain. Der Geschäftsmann hatte es gut verstanden, sich einen treuen Kundenstamm zwischen Euskirchen und Weilerswist aufzubauen, zumal er mit seinem Bruder Max in Liblar kooperie­ren konnte. Die beiden Kaufhäuser florierten, und erst ab 1935 wurden wirtschaftliche Grenzen sicht­bar. Willy Kain hatte den Lommersumer Sportverein gegründet und galt im Dorfe als sehr rührig. Engen Kontakt hatten die Familienangehörigen zu Isidor und Sofia Mayer in Euskirchen. Diesbezügliche Kor­respondenzen blieben erhalten.

Gegen die Familie Kain und weniger gegen die Stocks richteten sich die Übergriffe am 10. November 1938. Die „arische" Verkäuferin J. war noch bis zur „Kristallnacht" als einzige Kraft im Geschäft tätig. Als ab 1935 die Einnahmen zurückgingen, fuhr sie mit dem Fahrrad über Land, besuchte Kunden (besonders in Erp), zeigte Kollektionen, nahm Bestellungen auf und lie­ferte sie auch pünktlich aus. Ihr persönliches Ver­hältnis zu der großzügigen und freundlichen Fami­lie hinderte sie bis zuletzt daran, dem angefeindeten Arbeitgeber zu kündigen.

Über kaum keinen Ort in der Voreifel gibt es so viele detaillierte Aktenunterlagen und Zeugenaussagen über die Ge­schehnisse und juristischen Folgen der „Kristallnacht" wie über Lommersum. Eine Zusammenfassung ergab vorerst:

Die Kristallnacht schien anfangs für Lommersum „auszufallen“. Am Nachmittag des 10. No­vember war öfters durchs Radio durchgegeben worden, dass der Führer den Ausschreitungen Einhalt geboten hätte. Die wenigen Freunde, die die Familie Kain noch hatte, warnten diese per Telefon, nicht das Haus zu verlassen, weil es sonst zu Tätlichkeiten kommen könnte. Doch Willy Kain war im 1. Weltkrieg ausge­zeichnet worden und glaubte schon daher nicht an das Ärgste.

Am frühen Nachmittag des 10. November kamen vier bis fünf fremde Männer am Marktplatz vorbei, gingen in die Wirtschaft und riefen hier einem Bekannten laut zu: ,Am Abend    geht es hier zur Sache!'

Etwa gegen Mitternacht wurde es in den Dorfstraßen unruhig. Man hörte splitterndes Glas und Zerschlagen von Gegenständen. Dies kam aus dem Kaufhaus Kain und den Häusern der Familien Stock in der Zunftgasse. Frau Kain kam weinend mit ihrer Tochter zu Bekannten in die Zunftgasse, die nur 100 m von ihrem Kaufhaus entfernt ist. Hier wurden beide bis zum nachten Tag versteckt und versorgt. Willy Kain kam in `Schutzhaft'. Auswärtige, aber auch einheimische Nazis standen - teilweise angetrunken - in der Zunftgasse und warfen die Möbel der jüdischen Familien Stock auf die enge Straße.

Da in der Nachbarschaft eine Frau im Sterben lag und die Randalierer von der Richtigkeit dieser Angabe überzeugt werden konnten, kam es hier nicht zu den gröhlend angekündigten Brandstiftungen. Die ,Viehjuden' Stock waren im Ort sehr beliebt gewesen. Sie konnten durch die Hintergärten verschwinden und wurden von den Nachbarn am Anfang der Zunftgasse aufgenommen.585)

Allerdings sollte man betonen, dass es fast keinen im Orte gab, der nicht direkt oder indirekt beim Plündern beteiligt war. Selbst die Funktionäre werden in diesbezüglichen Polizeiakten ausdrücklich erwähnt. Am Tage darauf musste die Polizei mit einem Pferdefuhrwerk durch Lommersum ziehen, um das gestohlene Gut wieder einzusammeln. Noch heute gibt es in manchen Familien Tischdecken und andere Textilien aus dem jüdischen Kaufhaus Willy Kain. Verarmt fanden die Kains kurzfristig in Köln eine neue Zuflucht. Später kamen sie mit 11 anderen Glaubensbrüdern aus Lommersum in einem Vernichtungslager um586). Eindeutig ist in Polizeiakten587) belegt, dass selbst der Amtsbürgermeister Zander anwesend war und wohl nicht den Plünderern Einhalt geboten hatte. Auch die vier Polizisten waren stark verunsichert, zumal eine halbe Stunde nach der eigentlichen Zerstörungsaktion ein Kraftwagen mit etwa 30 auswärtigen Männern vorfuhr und die Gaffer zum Zugreifen animiert wurden, da „ja gleich doch alles angesteckt wird!"588)

Der Destruktionstrieb der Menschen ist selten auf dem Lande so ausgelebt worden wie während der „Kristallnacht". Schon dieser Ausdruck für das systematische Zerstören jüdischen Besitzes verniedlichte das Geschehen und schien ausdrücken zu wollen, als ob alle Juden reich seien. Der vom Propagandaminister geprägte Ausdruck verunsicherte somit das Rechts­empfinden des schlichten Landbewohners und der ansonsten oft human empfindenden Bürger und Kleinstädter.

 

Kristallnacht Weilerswist 01

Kaufhaus Kain in Lommersum (heute ein Ortsteil von Weilerswist) um 1930
v.l.n.r. Kundin,Ehepaar Willy Kain
(Quelle: Fiedler/Kürten, Vergangenheit Unvergessen,  Weilerswist 1988, S.26

 

2.) „Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet“, S. 462 – 471

Exemplarische Gerichtsverfahren gegen Täter der „Kristallnacht“ in Lommersum:

Das folgende Beispiel soll beweisen, wie wenig politisch motiviert oft die Dorfbevölke­rung während der „Kristallnacht" war. Am kleinen Voreifeldörfchen Lommersum - zwischen Euskirchen und Weilerswist gelegen - kann gezeigt werden, wie sich „antisemitische Ausschreitungen im November 1938“ in den erhalten gebliebenen Archivunterlagen niederschlagen.484)

Die politisch verbrämte Begründung des November-Pogroms war bekanntlich „der Protest gegen die Juden" als Reaktion auf das Attentat an einem deutschen Staatsbür­ger. Demzufolge sollten später all diejenigen Aktionen verfolgt werden, die aus eigensüchtigen Motiven heraus geschahen - wie zum Beispiel Plünderungen, einschließlich der daraus entstehenden Hehlerei sowie der ebenso motivierten schweren Körperverletzungen und Tötungen.

Es ist genügend dargestellt worden, dass Plünderungen und ähnliche Privataktio­nen überall vorkamen. Sie wurden nur selten sanktioniert. Die Akten der Gerichte berichten jedoch auch über das unglaubliche Geschehen in Lommersum, wo am 11. November 1938 etwa 120 Anzeigen wegen Diebstahl und Plünderung aufgenommen wurden und die Polizei von Haus zu Haus ziehen musste, um die aus einem jüdischen Kaufhaus entwendeten Waren - wenigstens teilweise — wieder einzusammeln. Dennoch wurden immer wieder Gegenstände - oft in Ställen versteckt - gefunden. Andere hatten ihre Beute auf die Felder geworfen, um der kontrollierenden Polizei keine Beweisstücke in die Hand zu geben. Die Verfahren und die dort vorgebrachten Argumentation könnten als typisch für die außerhalb der Städte wohnenden Voreifel-Bewohner gewertet werden.485)


Zur Sache:
Dem Angeklagten X. wurde vorgeworfen, einen großen Teil eines jüdischen Warenla­gers in sein Haus geschafft zu haben. Da sich Hunderte von Dorfbewohnern um Mitternacht vor dem jüdischen Kaufhaus versammelt hatten, um der etwa einstündi­gen Zerstörungsaktion beizuwohnen und dann nach Hause zu tragen, was nicht niet- und nagelfest war, dürften sich diese genauso strafbar gemacht haben.

Der Angeklagte X. wurde am 11. November sofort festgenommen und in das Euskirche­ner Gefängnis gebracht. Bei den ersten Vernehmungen ergaben sich eigenartige Rekon­struktionen:

Der Beschuldigte:
(…) Ich legte mich eine Zeitlang ins Fenster und besah mir das Treiben auf der Straße. Die bei mir im Hause wohnenden Mieter lagen ebenfalls im Fenster. Nachdem ich etwa eine ½  Stunde aus dem Fenster dem Treiben zugesehen hatte, habe ich mich angezo­gen und begab mich nach draußen (…).

Ich gewahrte, dass aus den Fenstern des Wohnhauses das Mobi­liar, Kleidungsstücke etc. auf die Straße geworfen wurden (…). Nach einiger Zeit stürmten die Zuschauer in das Ladenlokal und entwendeten die dort liegenden Kleidungsstücke. Kurze Zeit später betrat auch ich den Laden, habe aber nichts entwendet. Ich bin wieder auf meinen Hof gegangen und stellte fest, dass von dem Laden aus alle möglichen Kleidungs- und Wäschestücke in mei­nen (…) Hof gebracht worden waren (…). Zu diesem Zeitpunkt kamen alle möglichen Bewohner von Lom­mersum und (…) und brachten aus dem Judenladen entwendete Kleidungsstücke, die sie bei mir teils in der Scheune, teils im Schuppen verstauten (…).

(…) Ich habe mich dagegen gewehrt, dass die Leute die gestohlenen Sachen in mein Gebäude schleppten, aber ich war vollkommen machtlos.
Ausdrücklich erkläre ich, dass die Sachen, mit Ausnahme der in meinem Wohnzimmer gestapelten, ohne meine Einwilligung und ohne mein Zutun in meine Stallungen etc. geschleppt wurden (…).

(…),  weil ich die Absicht hatte, diese dem Juden ... zurückzugeben, sobald er wieder in Lommersum wäre. Dieser war nämlich in der Nacht vom 10. zum 11. November zum Schutze seiner Person in Haft genommen worden. Gegen 13 Uhr sah ich Kain auf seinem Hofe und rief ihm zu, dass sich bei mir größere Mengen seiner Waren befänden. Er sagte mir darauf, dass ich die Sachen ruhig liegen lassen sollte, bis die Polizei käme (…). Ich erkläre erneut, dass es mir vollkommen fern gelegen hat, mich an den Waren zu bereichern (…).

Daraufhin wurden am 29. November 1938 einige Zeugen zu der oben angeführten Strafsache befragt. Ihre Antworten lauteten u. a.:

Zeuge 1:
Ich selbst habe bei X. keine Sachen herüber getragen. Mein Schwiegersohn (…) hat, wie er bereits in seiner Vernehmung angegeben hat, zwei Stühle und einen Einkochapparat hinter die Scheune über die Gartenhecke zu X. geschafft (…).

 

Zeuge 2: 
(…)  Ich gebe zu, im Hause Kain gewesen zu sein. Ich hatte auch die Absicht, mir eine kleine Matratze mitzunehmen, wurde aber durch das Erscheinen des Bürgermeisters und der Polizei daran gehindert (…).

 

 Zeuge 3:  
 (…) Es ist richtig, dass ich ebenfalls aus dem Geschäft (…)  Sachen mitgenommen habe. Ich wohne bei X. zur Miete. Die Sachen sind bei mir von der Polizei abgeholt und im Stall der Frau (…) unterge­bracht worden. Ich habe folgende Sachen gehabt:

1 Vorhang, 3 Paar Strümpfe, 2 Rollen Schürzenstoff, 5 Kinder­schürzen, 2 St. Kleiderstoff, 1 St. Flanellstoff, 1 Herrenrock, 1 Weste (…). Außerdem hatte ich von meinem Bruder noch folgende Sachen: 10 Unterröcke, 6 Herrenhosen und noch eine Anzahl Kindersachen (…).

Es ist richtig, dass  X. morgens gegen 10 Uhr mit (…) gesprochen hat. Was die aber besprochen haben, kann ich nicht sagen. Eine Äußerung, dass X. die Sachen freiwillig zurückgeben wollte, habe ich nicht gehört.

Wir haben die Sachen, als die Polizei kam, freiwillig herausgege­ben. Dasselbe hat auch X. getan (…).

 

Zeuge 4: 
Ich habe an der Juden-Aktion aktiv teilgenommen; ein großer Teil der Sachen wurde aus den Fenstern heraus geworfen (…). Die Behauptung (…) entbehrt jeder Grundlage (…).

 

Zeuge 5:  
In der Nacht vom 10. zum 11. November, als aus dem Hause (…) die Sachen herausgeholt wurden, standen Gendarmerie- und Poli­zeibeamte dabei. Die Polizeibeamten ließen es geschehen, dass die Sachen weggeholt wurden. Sie haben sogar mit der elektri­schen Taschenlampe die Sachen beleuchtet.

Der (…), Sohn des  (…), der bei (…) den Traktor fährt, nahm sich eine Hose aus dem Hause (…) und sagte zu seinem Vater, die Hose sei gut, für auf dem Traktor anzuziehen. (…) nahm die Hose mit. Der Gendarmeriewachtmeister (…) stand dicht dabei und ließ es geschehen.

 

Zeuge 6:  
(…) Die Anschuldigung wurde mir vorgehalten. Ich erkläre, dass ich in der Nacht vom 10. zum 11. November das Haus des Juden Kain nicht betreten habe. Als in der Nacht die Aktion gegen die Juden durchgeführt wurde, ging ich auch auf die Straße und stellte mich vor das Haus des Juden Kain, um die Aktion der empörten Volksmenge mitzuerleben.

Aus dem Geschäft (…) wurde eine Hose heraus geworfen. Diese fiel mir vor die Füße. Ich habe die Hose aufgehoben, und es kann möglich sein, dass ich gesagt habe, dass ich dieselbe gut bei der Arbeit anziehen könnte. Wie ich mit der Hose nach Hause kam, machte mir meine Mutter Vorwürfe. Ich habe die Hose genommen und sie vor dem Hause (…) auf die Straße geworfen. Ich versichere erneut, dass  ich sonst keinerlei Gegenstände fortgenommen habe.

Ich muss den ganzen Tag über anstrengend arbeiten, und auch in der fraglichen Nacht war ich sehr müde. Ich hielt mich deshalb nur kurze Zeit auf der Straße auf und bin, als ich die Hose zurückgebracht hatte, gleich zu Bett gegangen. Ich erkläre, dass  ich, als ich vor dem Hause (…) stand, und auch, als ich die Hose aufnahm und fortbrachte, weder (…)  noch irgendeinen Gendarme­riebeamten gesehen habe. Die Angaben des X. sind m. E. er­funden. "

 

Zeuge 7:  
(…) Ich habe gesehen, wie der ... (Propagandaleiter des Ortes) Sachen aus dem Hause (…) herausgeholt hat, und zwar Teppiche. Die Frau (…) sagte zu (…), dass sie die Teppiche auch gut gebrau­chen könnte. Darauf sagte (…) zu ihr: Nein, sie wisse doch, dass er jetzt heiraten wolle. Ich habe gesehen, dass (…)  die Teppiche nach Hause getragen hat. Der Propagandaleiter hat sich auch noch mehrere Rollen Stoff aus dem Hause (…) geholt und nach Hause gebracht. Ich weiß nicht, wo (…) die Sachen versteckt hat. Ich habe gehört, dass er sie im Schweinestall des (…) versteckt hat (…).

 

Zeuge 8:    
(…)stand ich mit verschiedenen Personen vor dem Hause des (…), als dieser mit Sachen aus dem jüdischen Geschäft Kain nach Hause kam. (…) sagte zu mir: , Geht Euch doch auch etwas holen, nachher werden die Sachen verbrannt.' Der Gendarmerie­beamte (…) hat mir einen Rock hingeworfen und gesagt: , Der passt, nehmen Sie ihn mit!' Er fügte noch - dem Sinne nach - hinzu, wenn es nicht gestattet sei, würde der Beamte das doch nicht getan haben. Dadurch habe ich mich veranlassen lassen, mir auch etwas zu holen.

 

Zeuge 9:
Es ist richtig, dass der ... (Propagandaleiter des Ortes) eine Rolle Läuferstoff (Bettumrandung) aus dem Hause (…) heraus getragen hat. Als ich ihm sagte, ich könne die Läufer gebrauchen, entgeg­nete er mir: ,Ich will doch heiraten. Die kann ich auch gut gebrauchen.' Er hatte den Läuferstoff in einem großen Karton. Auf der Straße half ihm ein Mann, - wer es war, habe ich in der Dunkelheit nicht feststellen können -, den Karton auf die Schulter zu laden.

 

Zeuge 10:  
(…)worauf der ebenfalls anwesende Gendarmerie-Hauptwachtmeister (…) aus (…) gesagt haben soll: , Frau (…), das ist doch auch nicht so schlimm, darüber brauchen Sie sich auch nicht zu schämen!'(…)

 

Zeuge 11:  
Ich kann aus eigener Wahrnehmung zur Sache nichts bekunden. Ich selbst war krank und habe zu Bett gelegen, als sich die Dinge ereignet haben (…).

Am nächsten Tage haben Polizeibeamte aus einem unbenutzten Schweinestall in meinem Gehöft einen Posten Waren, der aus dem Geschäft des Juden Kain stammte, vorgeholt. Wer die Sachen dorthin gebracht hat, entzieht sich meiner Kenntnis."

(Unterschrift verweigert!!! - Der alte Mann glaubt, Unannehm­lichkeiten zu haben, wenn er die Unterschrift leisten würde.)

 

Zeuge 12:  
(…)es ist richtig, dass die (…)am Freitagmorgen bei dem Juden (…) auf dem guten Zimmer war. Jemand von uns - wer es nun war, weiß ich nicht - hat (…) gefragt: , Was machst Du denn hier?' - Dieselbe antwortete: ,Nippsachen suchen!'

Im Zimmer waren noch folgende Personen: (…) Frau (…) hatte ein großes Silbertablett auf dem Arm. Hierauf waren einige Teile. Was es war, kann ich nicht mehr sagen (…)."

Es ist richtig, dass  ich in der fraglichen Nacht in Begleitung des (…)  in dem Judenhaus Kain und in der Wohnung der anderen Juden (…) gewesen bin. Mein Begleiter gehört der SA an und befindet sich augenblicklich beim Heeresdienst, und zwar bei der Artille­rie in Augsburg.

(…) hat mich gebeten, ihn zu begleiten, da er Papiere, die Aufschluss über den Handel mit Juden geben konnten, an sich neh­men und dem Ortsgruppenleiter zur weiteren Veranlassung aus­händigen wollte. So haben wir in der fraglichen Nacht eine Pistole, einen Stockdolch, ein Schächtmesser, zwei Goldstücke (Devisen) und eine Anzahl Schriftstücke der Ortsgruppe abgege­ben. Dieses ist bereits aktenkundig gemacht worden (…).

Am Freitagmorgen bin ich nochmals mit (…) im Hause (…)  gewesen, weil (…) noch eine Kundenliste suchte. Ich war in sämtlichen Zimmern bei (…) und auch in dem fraglichen Eßzimmer. Es ist richtig, dass ich einen Silberteller und auch eine Tischdecke in der Hand hatte. Ich habe mich nur von der Güte und der Qualität der Sachen überzeugen wollen. Ich muss ganz energisch bestreiten, Sachen mitgenommen zu haben. Es ist seltsam, dass gerade die Inhaftierten mich des Diebstahls bezich­tigen wollen. Ich bin die Schwester des Ortsgruppenleiters. Ich habe gehört, dass diese Leute sich geäußert haben, dass, wenn sie hereinfielen, auch noch andere mit reinfallen (…).

 

Zeuge 14:  
An dem betreffenden Morgen war ich mit der Frau (…) und Frau (…) im Hause (…), und zwar im Esszimmer. In diesem Zimmer war fast alles entzweigeschlagen. Ich bin bloß mal der Neugierde nach rauf gegangen, um zu sehen, wie es dort aussah. Im Zimmer waren viele Personen anwesend, die in den Trümmern herum­suchten (…).

 

Zeuge 15:
In der Nacht vom 10. zum 11. November 1938 habe ich als einziger Beamter vor dem Hause Kain und den anderen jüdischen Häusern gestanden. Ich habe mich wiederholt an den Obermei­ster gewandt, um Verstärkung zu erhalten. In der Nacht gegen 1 Uhr traf der Gendarmerie-Hauptwachtmeister (…) als Verstärkung in (…) ein. Gemeinsam mit ihm und dem Feldhüter (…) haben wir vor dem Hause (…) gestanden, um eine Plünderung zu verhüten. Da es stockfinster war, haben wir selbstverständlich unsere elek­trischen Taschenlampen gebraucht, um die Gegend abzuleuch­ten. Da wir in Lommersum jüdische Häuser hatten, sind wir dauernd auf- und abpatrouilliert und haben hierbei fortgesetzt Personen, die geplündert haben, wieder zurückgeschickt und die Sachen an Ort und Stelle wieder hinlegen lassen.

Es wird wohl kein Mensch in Lommersum sagen können, dass wir die Plünderung geduldet hätten, sondern ich glaube bestimmt, dass fast jeder von mir gehört haben muss, der in der fraglichen Nacht mit Sachen angetroffen worden ist, dass ich ihn wieder zurückgeschickt habe. Außerdem habe ich fortgesetzt die Leute aufgefordert, die Sachen liegen zu lassen und nichts mitzunehmen. Es ist weiter nicht richtig, dass ich dem (…)  einen Rock zugeworfen habe. Ich kann mich nicht entsinnen, an dem Abend (…) gesehen zu haben (…).

 

Zeuge 16:
Ich bin Amtsbürgermeister (…) Zander. Zur Sache: Etwa gegen 1 Uhr kam ich damals nach Lommersum und sah die Sachen dort auf der Straße liegen. Ich rief sofort und auch später laut und deutlich, niemand dürfe sich etwas wegnehmen. Das hat auch jeder genau verstanden. Auch die Polizeibeamten haben das noch mehrmals deutlich wiederholt. In der Nacht ist der Angeklagte mir nicht besonders aufgefallen (…).

 

Kristallnacht Weilerswist 02

Das Gebäude des ehemaligen Kaufhauses von Willy Kain in Lommersum (Mitte), das während
der „Kristallnacht" völlig ausgeplündert und zerstört wurde (Foto: H.-D. Arntz)

 

Oberamtsrichter in Euskirchen:
 „ (…) der Haftbefehl stammt vom 14.November 1938 (…).  X. ist dieser Straftat dringend verdächtigt. Mit Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit wäre es nicht erträglich, wenn der Beschuldigte in Freiheit gelassen würde. Außerdem besteht Verdunklungsgefahr."

 

Oberstaatsanwalt in Bonn ( 17.12.1938):
„Die Haftentlassung wird abgelehnt! X. hat sich nicht nur krimi­nell strafbar gemacht, sondern darüber hinaus dazu beigetragen, Deutschland in den Augen der übrigen Welt, insbesondere im Hinblick auf die ideellen Motive der Aktion gegen die Juden, herabzusetzen!"

 

Urteilsbegründung:

Im Namen des Deutschen Volkes! (…) zu 5 Monaten Gefängnis! Die Untersuchungshaft wird angerechnet!

(…) während die meisten Täter auf die Aufforderung der Polizei reagierten und an dem auf die Plünderungen folgenden Tage die entwendeten Gegenstände ablieferten oder doch wenigstens sich ihrer entledigten, wurden in dem Hause des Angeklagten bereits am 12.11. 1938 zwei voll beladene Pferdefuhrwerke mit Waren aller Art, die aus dem Lommersumer Warenhaus und der Woh­nung des (…) stammten, herausgeholt und polizeilich sicherge­stellt (…).

Der Angeklagte hatte längere Zeit das Vorgehen der Kundgeber gegen die Wohnung und den Laden des Juden Kain beobachtet und war auch Zeuge, als der Bürgermeister Zander mit Polizeibe­amten gegen 1 Uhr nachts ankam. Auf diese Weise müssen sie die wiederholte und mit besonders lauter Stimme abgegebene Auf­forderung des Zeugen (…) an die Kundgeber gehört haben, dass nichts entwendet werden dürfe und dass es eines Deutschen unwürdig sei, zu stehlen.

(…), der Angeklagte war daher wegen Diebstahls nach § 242 StGB zu bestrafen (…).

Strafverschärfend war dagegen in Betracht zu ziehen, dass sein einer schmutzigen Gewinnsucht entsprechendes Verhalten geeig­net war, die damaligen Kundgebungen des Volkes in einem üblen Licht erscheinen zu lassen und damit das Ansehen der Volksgemeinschaft zu gefährden (…).

Das   Ehren-   und Disziplinargericht der Deutschen Arbeitsfront, Gau Köln-Aachen (3.6. 1939):

(…) X. wurde durch rechtskräftige Entscheidung nach Lage der Akten vom (…) aus der Deutschen Arbeitsfront ausgeschlossen. Die Befähigung zur Bekleidung eines Amtes in der DAF wurde ihm für dauernd aberkannt."

Viele Bauern und deren Angehörige, die direkt oder indirekt an Plünderungen während der „Kristallnacht" teilgenommen hatten, wurden schon wenige Tage danach - und nicht erst nach dem Kriege! - zur Rechenschaft gezogen.

Diesbezügliche Gerichtsurteile aus dem Jahre 1939 bestätigten den Angeklagten, dass „ihr, einer schmutzigen Gewinnsucht entsprechendes Verhalten geeignet war, die damaligen Kundgebungen des Volkes in einem üblen Lichte erscheinen zu lassen und damit das Ansehen der Volksgemeinschaft zu gefährden" (Verfahren gegen einen anderen Voreifeler vor der Staatsanwaltschaft Bonn v. 3. April 1939).

Die Urteile legten Geldstrafen, aber auch Haft nicht unter 8 Monaten auf. Dabei war die Tatsache, dass ein Bauer für die Wintersaat zu sorgen hatte und zudem gezwungen wurde, sein Fuhrgeschäft aufzugeben, kein mildernder Umstand. Auch die bedürftige Großmutter, die für ihr Enkelkind Süßigkeiten entwendet hatte, wurde zur Verantwor­tung gezogen.

Nach Durchsicht vieler Gerichtsunterlagen drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass sich der typische Stadtbewohner sehr wohl seiner Tat bewusst war und oft absichtlich politische Motive mit eigenen Interessen vermischte. Daher gab es dort kaum Anzeigen wegen unberechtigter Bereicherung. Diebstähle und Plünderungen waren auch wesentlich schwerer nachweisbar als in den benachbarten Dörfern, wo ja einer den anderen meist persönlich kannte. Eine weitere Komponente scheint der Bildungsstand der Angeklag­ten zu sein. Diejenigen, die auch später in Bonn verurteilt wurden, waren nach gerichtlicher Beurteilung oft „ungebildet und einfältig.

In einem Schreiben eines Euskirchener Rechtsanwaltes vom 23. November 1938 an das Landgericht, Strafkammer Bonn, verlangte dieser als Verteidiger einer verurteilten Frau aus der Voreifel  Haftbeschwerde mit dem Antrag, den verkündeten Haftbefehl aufzuheben. Seine Argumentation bestätigt den Eindruck, den man von vielen angeklagten Bauern haben musste:

Man versetze sich in die Denkart des einfachen Mannes, wie sie am 10. Novem­ber 1938 war. Der einfache Mann wusste nicht, was los war. Er hat in vielen Fällen das nachgemacht, was andere ihm vorgemacht haben. Manche haben Brandstif­tung begangen, Gebäude eingerissen. Alles dies ist unter den Augen der Polizei geschehen.

Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit hat (…) gefehlt. Es geht nicht an, dass man solche Volksgenossen zur Verantwortung zieht, die im Taumel vom 10. zum 11. November zu weit gegangen sind (…).  Etwa 7 sind in Haft genommen worden (…).

Die Angehörigen der Verhafteten wenden sich an ihren Rechtsanwalt und flehen um Hilfe. Sie können nicht begreifen, dass ihre Verwandten wegen dieser Vorfälle in Haft genommen worden sind, dass in anderen Orten, wo es zu weit stärkeren Kundgebungen gekommen ist, die Beteiligten nicht verhaftet worden sind.

Das Bonner Gericht bestätigte einer verurteilten Bäuerin aus dem Ostteil des Euskir­chener Kreises typische Dummheit:

(…) Es ist ferner wegen des geringen Bildungsgrades der angeklagten Ehefrau (…) nicht anzunehmen, dass sie die politischen Auswirkungen ihrer Verfehlung überse­hen hat  (…).

Exemplarisch für die Begründung der Urteile soll ein Auszug aus der Urteils­verkündung vom 13. Juni 1939 in Bonn sein, in dem es um Ahndung von Diebstahl gemäß § 242 und Hehlerei gemäß § 259 StGB ging. Hiermit liegt ein Beweis vor, dass die Ausschreitungen anlässlich der „Kristallnacht“ im November 1938 doch verfolgt und juristisch geahndet wurden:

(…) Bei der Strafzumessung wurde zugunsten der Angeklagten strafmildernd berücksichtigt, dass sie nicht vorbestraft sind und dass sie nach dem Eindruck in der Hauptverhandlung ziemlich beschränkt und somit nur Mitläufer bei den bedauer­lichen Vorkommnissen in (…) waren.

Strafverschärfend kam dagegen in Betracht, dass sie trotz Belehrung der Polizeibe­amten (…) aus schmutziger Habsucht noch einen Teil in Sicherheit bringen wollten und dass ihre Handlungsweise geeignet war, die Kundgebung des Deutschen Volkes gegen die Juden in Misskredit zu bringen. Denn der Sinn dieser Kundgebungen, der Welt und dem internationalen Judentum zu zeigen, dass die Geduld des Deutschen Volkes erschöpft sei und dass man nicht länger Schandtaten der Juden im Auslande wie die der Ermordung des deutschen Gesandten in Paris ungesühnt hinnehmen wolle, wäre entstellt worden, wenn allenthalben diese Kundgebungen in wüste Diebstähle und Plünderungen ausgeartet wären. Das unwürdige Verhalten der Angeklagten war daher geeignet, Partei und Staat und das Ansehen der Volksge­meinschaft zu schädigen (…).

Aber nicht nur unpolitische Bauern oder Hausfrauen waren verunsichert, sondern auch politisch geschulte NSDAP-Mitglieder. Ein amtlicher Bericht aus damaliger Zeit begründet dieses am Beispiel des unmittelbar vor Euskirchen liegenden Ortes Lommersum:

In der Nacht vom 10. zum 11.November 1938 fanden in (…) aus Anlass der Ermordung des deutschen Legationsrates vom Rath Kundgebungen gegen jüdische Geschäfte statt, an denen sich auch Ortsfremde beteiligten, die mit einem Lastwa­gen von auswärts gekommen waren (…).

Die Ortsfremden, unter denen sich auch ein Mann in SS-Uniform befand, zerstör­ten die Inneneinrichtung des jüdischen Warenhauses (…) und warfen die dort vorgefundenen Waren auf die Straße. Sie forderten dabei die Menge auf, sich die Waren mitzunehmen, da diese sonst verbrannt würden.

Sie zerstreuten die Bedenken gegen die Zulässigkeit der Mitnahme durch die Erklärung, sie hätten mehr zu sagen als die Polizei und müssten diejenigen, die sich an der Aktion nicht beteiligen würden, als Volksverräter ansehen (…).

Die Folge war, dass selbst „alte Kämpfer" und der Ortsgruppenleiter besonders erfolgreich „zugriffen" und sich dank ihrer Machtposition wertvolle Sachwerte aneignen konnten. Die Dorfbewohner, die hierüber gut informiert waren, verübelten das den „Goldfasa­nen" besonders. Zu  den vielen Beschuldigten und Verurteilten aus dem Voreifel-Gebiet gehörte auch ein Standortältester der SA, dem der General-Staatsanwalt von Köln in einem Schrei­ben vom 24. April 1939 an den Oberstaatsanwalt in Bonn vorwarf:

...Der Beschuldigte war Standortältester der SA. Wenn er auch nur den Rang eines Unterführers - Truppführers - bekleidete, so gab ihm seine Stellung als rangältester SA-Mann, insbesondere wegen der ländlichen Verhältnisse, eine nicht unerhebliche Autorität. Aufgrund dieser Stellung und der daraus entspringenden Verantwortung hätte der Beschuldigte den Plünderungen und der gelegentlich gegen jüdische Sachwerte gerichteten Aktion (…) entgegentreten müssen. Dies hat er aber nicht nur nicht getan, sondern sich sogar fremde Werte angeeignet. Hierbei ist hervorzuheben, dass er nicht nur ihm zufällig in die Hände fallende Gegenstände mitgenommen hat, sondern erst das Kaufhaus des Juden (…), dann die Wohnungen der Juden (…) und (…) aufgesucht und an allen 3 Stellen Sachen weggenommen hat. Ferner handelt es sich nicht um geringwertige Gegenstände, vielmehr hat der Beschuldigte außer dem Koffer, den er mit teils gebrauchten, teils mit neuen Kleidungsstücken voll gepackt hat, einen Sessel, einen Radioapparat und eine Nähmaschine mitgenommen oder durch seinen Sohn wegschaffen lassen, wobei erwähnt sei, dass er eine eigenen Nähmaschine zu Hause hatte (…) .

Auf die Befragung, was der SA-Führer als Entschuldigung vorzubringen habe, sagte dieser:

Zu Hause bekam ich später, als ich die Nähmaschine dorthin geschafft hatte, Gewissensbisse, und es kam mir das Verwerfliche meiner Tat zu Bewusstsein.

Ich scheute mich, die Sachen wieder an Ort und Stelle zurückzubringen, da ich mir einbildete, ich würde dann als Judenfreund verschrien. Ich nahm mir dann vor, die mir angeeigneten Sachen in der Nacht vom 12. auf den 13. November wieder in eines der jüdischen Häuser zu bringen bzw. sie vor einem der Häuser nieder zustel­len (…).

(…) Es kam mir aber, wie ich auch bereits erwähnte, während ich den Rest der Nacht schlaflos verbrachte, das Verwerfliche meiner Tat zu Bewusstsein, und ich wollte, um mich nicht strafbar zu machen und mein Gewissen als Mitglied der Partei und als Angehöriger der SA zu entlasten, die Sachen wieder zu den Juden hintragen (…)

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