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Zur Pädagogik der NS-Ordensburgen: Methodik und Didaktik der Ausbildung zum nationalsozialistischen „Führeranwärter“  

von Hans-Dieter Arntz
(Kapitel 10 des Standardwerkes Ordensburg Vogelsang 1934-1945 – Erziehung zur politischen
Führung im  Dritten Reich
, Euskirchen und Weilerswist 2006, 5. Auflage, S. 102-114)
29.03.2007

Der vorliegende Beitrag erscheint in meinem Buch Ordensburg Vogelsang 1934-1935 – Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich als 10. Kapitel. Unter der Überschrift „ Die Ausbildung und Gesinnung der `Führeranwärter´“ ist er auch dort ein Detail in der Gesamtdarstellung der „Junker“-Ausbildung an nationalsozialistischen Ordensburgen. Das Gesamtkonzept ist dem Inhaltsverzeichnis des Buches zu entnehmen.

Die vorliegenden Ausführungen sind somit als Einleitung des Konzepts zur Ausbildung künftiger NS-Führungskräfte zu betrachten.

Die vorliegende Online-Publikation „Zur Pädagogik der NS-Ordensburgen“ übernimmt die Fußnoten sowie Hinweise auf das Quellenmaterial, verzichtet jedoch auf einen weiteren Teil der Fotos. Inhaltlich befassen sich die Ausführungen u. a. mit:    

 

                                Schulungsbeginn an der Ordensburg Vogelsang am 1.Mai 1936
                                Die Funktion des Kommandanten
                                Der Tagesablauf der „Führeranwärter“
                                Kameradschaftsblatt und Burgzeitung „Der Orden“
                                Vor- und Leitbild: Ritter Ulrich von Hutten
                                Der „Junker“ auf der NS-Ordensburg Vogelsang
                                Der  Kampf als „Schicksal der germanischen Menschen“
                                Nationalsozialismus und Christentum

 

Studien der „Führeranwärter“, der so genannten „Junker“, auf der Ordensburg Vogelsang


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                                                                                                                            Repros: Archiv Arntz

Kapitel 10:
Die Ausbildung und Gesinnung der „Führeranwärter“

Eine Woche nach Hitlers Rede in Crössinsee zogen am 1.Mai 1936 die ersten Junker auf Vogelsang ein. Vorbei an Posten der SS, die auf den Ordensburgen das Wachperso­nal und Ehrenwache stellte, vorbei an Wirtschafts- und Verwaltungsgebäuden, fuhren sie über eine breite Betonstraße zum Mittelpunkt der riesigen Anlage, einem 300 mal 300 Meter großen Aufmarschplatz, an dessen einer Seite das so genannte „Haus des Wissens" errichtet werden sollte. 300 Meter lang, 200 Meter breit, mit einem riesigen Turm, sollte dieses „Haus des Wissens" mit Forschungsinstituten für Historiker, Rassen- und Vererbungsfachleute und Geographen sowie einem 2 000 Personen fassenden Hörsaal das Prunkstück von Vogelsang werden. Es wurde jedoch nur in Plänen und vielen Entwürfen fertig.

Vom Verwaltungsbau und dem neben ihm liegenden Offizierskasino aus blickte man hinweg über die zehn (später 14) 50 m langen Mannschaftsräume, in denen die Junker wohnten, auf die Sportanlagen am Hang und hinab auf den Urftsee in der Tiefe. Alle Unterkünfte waren betont schlicht eingerichtet, Stühle und Tische aus schwerem Eichenholz gefertigt, die Schlafzimmer der Junker zum Korridor hin offen. Unterhalb der Mannschaftsgebäude, nur wenige Meter über dem See, lagen später zu beiden Seiten eines Sportstadions ein Hallenbad, eine Turnhalle und ein Schießstand. Aus roh behauener Grauwacke gebaut, mit den für die Eifel typischen Schieferdächern passte die ganze Anlage vorzüglich in das herbe Bild dieser Berg­landschaft.(96) 

Sport und Wettkämpfe des Vogelsang-Lehrgangs 1937/38

 

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                                                                                                               Repros und Foto: Archiv Arntz 
                                                                                                     

Wenn auch 12 Busse dafür sorgten, dass die in der Eifel gelegene Ordensburg Vogelsang mit den benachbar­ten Städten und Ortschaften verbunden war, so ging der Betrieb und die Ausbil­dung der ersten 500 Männer doch nicht in aller Öffentlichkeit vor sich. Nur selten findet man Bilder, die die Junker beim täglichen Dienst zeigen. (97)

Der erste offizielle Kommandant der Ordensburg Vogelsang war Reichshauptamts­leiter Richard Manderbach, der diesen Rang seit dem 30. 7.1935 innehatte. Er wurde am 21. Mai 1889 in Wissenbach (Dillkreis, Hessen-Nassau) geboren, machte kunstgewerbliche Studien in München und ließ sich später als Innenarchitekt und Kunstgewerbler nieder. Im August 1914 trat er in das 77. Feldartl.-Rgt. in Leipzig ein und befand sich bis zur Beendigung des 1. Weltkrieges an der Westfront. Ab 15.5.1919 Freikorps, Eiserne Division, Baltikumkämpfer, Hauptmann der Luft­waffe. Von 1936-1939 Kommandant der Ordensburg Vogelsang. Vorher hatte er folgende Tätigkeiten in der NSDAP ausgeübt: Bezirksleiter, Gauredner, Gauin­spekteur, Reichsinspekteur, Reichsbeauftragter des Stellvertreters des Führers, Stadtverordneter, ab 1929 Stadtrat. Mitglied des Preußischen Landtags von 1932/ 33 und des Reichstages seit der 9. Wahlperiode 1933. (98)

Richard Manderbach war der Sohn eines Steigers und Gründer der SA im Bezirk Siegerland (1924). Die Zeitung „Der Ruhrarbeiter" vom 3. Dezember 1937 stellte ihn auch als „Schöpfer" des „Turms des deutschen Bergmanns" vor, der 1936 auf der höchsten Erhebung des hessischen Erzgebietes, der Eschenburg bei Dillenburg, eingeweiht wurde.

Der einst deutschnationale, dann nationalsozialistische Kommandant preußischen Zuschnitts konnte nie die Sympathie der so genannten „Führeranwärter" erringen. Man bedauerte es nicht, als er im Sommer 1939 aus seiner Funktion schied, als bekannt wurde, dass er heimlich sein Kind hatte taufen lassen. An anderer Stelle wird hierüber zu berichten sein. (99) Begeistert allerdings folgten die Männer dem jungen Hans Dietel, der dann die Nachfolge von Manderbach übernahm. (100)

Der Ablauf eines Tages im Leben der „Führeranwärter" - so wurden die Männer nun bevorzugt in der Presse vorgestellt - sei hier wiedergegeben. Einer aus der Burgmannschaft berichtete:

Schon früh beginnt das Tagewerk. Nach dem Wecken ist mit dem Frühsport um 6 Uhr morgens die Burgschaft im ersten Dienst. Nach Waschen und Ankleiden sind Schlaf- und Wohnräume in Ordnung zu bringen. Um 7 Uhr stehen die Männer mit ihren Führern an der Fahne, um für des Tages Geleit ein Wort des Führers zu hören. Ein kurzes Kommando: „Kameradschafts­weise Abrücken zum Frühstück!" Die weiß gedeckten Tafeln des Speisesaales vereinen uns zur ersten Mahlzeit. Danach ist noch Gelegenheit, einiges in Ordnung zu bringen, ein Buch aus der Leihbücherei zu holen, und um 8 Uhr versammelt sich dann jede Kameradschaft im Seminarraum ihres Hauses. Kurze Meldung: „Kameradschaft vollzählig zur Arbeitsgemeinschaft angetre­ten!" Zwei Stunden stehen zur Verfügung, den Hauptvortrag des Vortages in gegenseitiger Aussprache durchzuarbeiten oder kommende Themen vorzube­reiten. Um 10 Uhr hat jeder seinen Platz im großen Hörsaal des Hauptgebäu­des eingenommen, wo bis 12 Uhr ein Haupt- oder Gastlehrer der Burg eine Vorlesung oder einen Vortrag hält.

 Bereits um 12.15 Uhr hat sich die Burg­schaft dem Führer vom Dienst zu stellen. Der Burgwachtmeister gibt Parole und Tagesbefehl bekannt und lässt dann zum Mittagbrot abrücken. Um 14.30 Uhr bietet sich ein buntes Bild vor den Kameradschaftshäusern. Hier rückt eine Gruppe ab zum Fechten, dort empfangen die Männer Boxhandschuhe. Eine Kameradschaft ist fertig zum Reiten, daneben warten die Fußballer auf den Befehl zum Abmarsch. Für Geländesport, Gasschutz, Schießen, Leicht­athletik, Schwimmen usw. sind die übrigen bereit. Noch einmal sitzen die Männer, von 17 bis 18.30 Uhr, jetzt in kleineren Kreisen, zur Arbeitsstunde zusammen. Um 19 Uhr ist Abendbrot, und wenn nicht anschließend ein Kameradschaftsabend, eine Feier oder irgendeine Sonderaufgabe die Gemein­schaft beieinander hält, dann gilt es für den nächsten Tag zu rüsten, Versäum­tes nachzuholen, ein Buch zu lesen. Um 22 Uhr liegt alles im Bett. Der Führer vom Dienst nimmt die Stuben ab und überzeugt sich von der Ruhe, die in allen Kameradschaftshäusern herrscht. Auch besondere Feierstunden und Feiertage gehören zum Leben der Burgmannschaft. Oper und Theater in den benachbarten Städten Aachen und Köln sehen oft die Führeranwärter aus Vogelsang zu Gast. Auf mehrtägigen Reisen wird das allgemeine geistige Blickfeld erweitert."(101)

Aus dem „Organisationsbuch der NSDAP" erfährt man Einzelheiten über die Uniform der Führeranwärter. Als Angehörige der Partei trugen die Junker eine braune Uniform, Schirmmütze, braunes Hemd mit schwarzer Krawatte, Koppel und Schulterriemen aus braunem Leder und halblange Jacken mit silbernen, gehämmerten Knöpfen, - die braunen Stiefelhosen steckten in schwarzen Schaft­stiefeln. Ein schmaler schwarzer Streifen auf dem linken Ärmel trug den Namen der Ordensburg.

Die vielseitigen Aktivitäten der „Führeranwärter" werden aus den wenigen erhal­ten gebliebenen „Kameradschaftsblättern" ersichtlich, die von den verschiedenen Kameradschaften seit 1936 herausgegeben wurden. (102)

In verschiedener Aufmachung und wechselndem Niveau erschienen einige Ausga­ben des „ORDENs" in hektographierter Form schon 1936. Intellektuell unter­scheiden diese sich kaum von Bierzeitungen gymnasialer Oberstufenschüler.

  Führeranwärter N(...) hatte für die erste, besser konzipierte Ausgabe, die Juni-Ausgabe von 1937, seiner Ordensburg ein verbales Denkmal gesetzt:

 

                                          Ordensburg Vogelsang

                                          Sagenumsponnene Trümmer rührseliger Ritterromantik
                                          suche der Wanderer nicht, grüßt ihn von ferne dein Turm.
                                          Nordischer Strenge Geheiß verkörpert dein trutzig Gequader.
                                          Steinerner Finger des Schwur's reckst du ob Eifel und Urft.

                                          Vielgestaffeltem Bau entströmt die Herbe der Landschaft,
                                          klarer Linien Lied fälscht kein kleinlicher Zierat.
                                          Heldische Treue und Kraft zu künden, bist du berufen!
                                          Tief der Jugend in's Herz  senke des Führers Gesetz!"

 

Erst die gedruckten Ausgaben ab Janu­ar 1938 erlauben einen systematischen Einblick in die zusätzlichen Aktivitä­ten. Besonders die Ausgabe vom 30. Ja­nuar 1938 mit dem offiziellen Bezug zum „6. Jahrestag der nationalsoziali­stischen Erhebung" setzt den „Glau­ben an das ewige Deutschland" und das Vertrauen auf „Herrentum, Führer­wollen und Rasse" in den Vordergrund.

„Der Orden" vom 30.1.1938 berichtet über eine Belgienfahrt, die hauptsäch­lich dem Gedenken der Kriegsgefalle­nen des 1. Weltkrieges galt. Danach folgt eine Reportage über den Besuch im Kölner Opernhaus und der Neuin­szenierung von Don Carlos sowie die London-Fahrt der englischen Sprach­gemeinschaft.

Zwar war Hauptzweck der Reise die Unterstützung der deutschen Mann­schaft beim Boxländerkampf England -Deutschland (16.12.1937), aber der Empfang in der Deutschen Botschaft und die vermerkten Kontakte zu englischen Faschisten blieben besonders in Erinnerung.

Die 1. Kameradschaft der 1. Bereitschaft weilte auf Einladung der Ortsgruppe Wichlinghausen als Gast in Wuppertal und studierte die Textilindustrie. Die 2. und 3. Kameradschaft berichtete in „Der Orden" vom 30.1.1938 über eine Fahrt nach Essen, der „Waffenschmiede des Reiches".

Selten wurde das Selbstverständnis der Führeranwärter so sichtbar wie bei der „Ulrich-von-Hutten-Feierstunde" am Ende des Jahres 1937. Die 12. Kameradschaft hatte sich diesen Ritter als Vorbild erkoren. Die Gestalt von Ulrich von Hutten als „Führer unseres Volkes zur Befreiung vom römischen Joch" und „Lichtträger des Nordens in deutscher Sendung" (103) war angeblich am ehesten dazu geeignet, das spätmittelalterliche Rittertum mit dem nationalsozialistischen Junkertum an Ordensburgen zu vereinen.

Aber nicht nur als Folge dieser Feier sollten sich die Männer verpflichtet und zur Tat aufgefordert fühlen, sondern auch aus der Erkenntnis heraus, dass sie die logische Fortsetzung mittelaltertümlicher Ideale wären.

Diese Idee fand in einem Bild seine Verwirklichung. Seite an Seite reiten Ulrich von Hutten und ein markiger Junker vor der Ordensburg Vogelsang einher. Heute dürfte dieses Bild symbolhaften Charakter haben. Mächtig ragt der Turm des „Haus des Wissens" in den Himmel. Das Gebäude wurde ebenso wenig errichtet wie es zur Symbiose Rittertum-Junkertum kam.

 

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Georg Sluytermann von Langenweyde

 

Dennoch identifizierte sich die Ordensburg Vogelsang mit der in dieser Feierstunde geäußerten Vorstellung. Sie versuchte, diesen Gedanken einer größeren Öffentlichkeit mitzuteilen. 1938 wie auch 1939 bildete die Feierstunde „Ulrich von Hutten" die Eröffnung zur Fahrt der „Alten Garde" durch den Gau Westfalen-Nord. Am 14. Juni 1939 stellten sich etwa zweihundert Junker von Vogelsang in der Rudolf-Oetker-Halle von Bielefeld vor. In Prologen sowie Lied- und Sprechchor drückten sie das aus, was Kameradschaftsführer und Leiter der Feier- und Freizeit­gestaltung Hermann (...) folgendermaßen formulierte:

„Kampf ist das Schicksal des germanischen Menschen. Ein Kampf um Blut und Boden, um Freiheit und Ehre.

Seit fast zwei Jahrtausenden währt das gewaltige Ringen um die Freiheit der deutschen Seele, der Kampf gegen eine fremde Welt, die den freien Geist des Nordens brechen und die deutsche Art in Sklaverei bringen will.

Viele Deutsche haben Gut und Blut in diesem Kampf lassen müssen. Viele haben in Schwäche ihr Deutschtum verraten und sind Knechte einer fremden Macht geworden.

Immer aber standen Männer auf, erhoben sich gegen die Knechtschaft eines artfremden Glaubens und rangen um die deutsche Freiheit gegen eine Welt der Lüge und des Hasses.

Diese Rebellen um Reich und Ehre sprangen auf, trotz Acht und Bann, Inquisition und Tod, um die Freiheit im Reiche des Lichtes gegen eine Welt des Dunkels zu verteidigen...

Einer steht uns aber heute ganz besonders nahe, auch als Mahner und Streiter für unsere Zeit: Ulrich von Hutten..." (104)

 

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Junker auf der Ordensburg zu sein, bedeutete: Austritt aus den christlichen Kir­chen. Diese Forderung des Nationalsozialismus an Parteiangehörige und Füh­rungskräfte wurde auch auf Vogelsang sofort erfüllt. Wie hieß doch die letzte Strophe des Chors anlässlich der von-Hutten-Feier?

 

                             „Heilig Vaterland, heb zur Stunde
                             kühn dein Angesicht in die Runde.
                             Sieh uns all entbrannt, Sohn bei Söhnen stehn,
                             du sollst bleiben, wir vergehn." (105)

 

Heute ist es sicher schwer zu verstehen, dass Ideale wie Vaterland, Ehre oder Heimat mit „heilig" in Verbindung gebracht werden. Wer aber die Briefe mancher Junker analysiert, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht immer Strebertum, Anpassungswilligkeit, Kadavergehorsam und Pflichterfüllung ausschlaggebend waren. Bei manchem war ein nach Hörigkeit lechzender Idealismus bestimmend, der heute nicht mehr nachvollzogen werden kann. Zumindest kann man das den vorliegenden Briefen und Dokumenten entnehmen. (106)

Eine Geheimanweisung des Reichsleiters Bormann und Nachfolgers von Rudolf Heß an die Gauleiter und Reichsstatthalter vom Herbst 1941 bestätigte, was seit Jahren längst „unauffällig" gehandhabt wurde:

 

Betreff:      Verhältnis von Nationalsozialisten und Christentum

Nationalsozialistische und christliche Auffassungen sind un­vereinbar. Die christlichen Kir­chen bauen auf der Unwissenheit der Menschen auf und sind be­müht, die Unwissenheit möglichst weiter Teile der Bevölke­rung zu erhalten; denn nur so können die christlichen Kirchen ihre Macht bewahren!

Demgegenüber beruht der Natio­nalsozialismus auf wissenschaft­lichen Fundamenten...

Wenn wir Nationalsozialisten von einer Gottgläubigkeit spre­chen, dann verstehen wir unter Gott nicht, wie die naiven Chri­sten und ihre geistlichen Nutz­nießer, ein menschenähnliches Wese, das irgendwo in den Sphä­ren herumsitzt...

Die naturgesetzliche Kraft, mit der sich alle diese unzähligen Planeten im Weltall bewegen, nennen wir Allmacht oder Gott (…)" (107)

Schon seit der so genannten Machtergreifung konnte man eine Feindseligkeit gegenüber den christlichen Kirchen beobachten. Kirchenaustritte und die Förde­rung des förmlichen Glaubensabfalls wurden 1933 noch nicht offiziell verordnet. Natürlich wahrte man auch hier den Schein der Unparteilichkeit und erließ daher keine offiziellen Verordnungen. Jedoch deckte man die unteren Stellen bei ihren diesbezüglichen Aktivitäten. So wurde u. a. die öffentliche Meinung zugunsten des Kirchenaustritts beeinflusst.

Man fand ein schützendes Feigenblatt für die Blöße des Glaubensabfalls, einen wohlklingenden Namen: „gottgläubig". Das klang anders als „ungläubig" oder „heidnisch" oder „freireligiös". Es klang sogar positiv, wenn es auch in erster Linie negativ gedacht war, nämlich als „nicht- kirchengläubig".

Etwas Positives konnte sich jeder selbst in den Begriff „gottgläubig" hineindenken: „Natur" oder „das All" oder seinen „Geist" oder „Deutschland" oder „Blut" oder „Rasse".

Im „Westdeutschen Beobachter" vom 28. September 1936 meinte Stabschef Lutze: „Hier in Deutschland darf es nur eine Weltanschauung und einen Glauben geben: An den Nationalsozialismus und seinen Führer Adolf Hitler!"

Auch „Junkern" auf der Ordensburg Vogelsang wurde von Anfang an ein Kirchgang unmöglich gemacht. Es gab zwar keinen förmlichen Erlass, aber ein Verbot, nicht ohne Uniform die Burg zu verlassen. Hinzu kam, dass es nicht erlaubt war, in Uniform eine Kirche zu betreten. Kommandant Manderbach, der 1939 seines Postens enthoben wurde, weil er heimlich sein Kind taufen ließ, soll angeblich vorher gesagt haben: „Die Junker können Gottesdiensten in Zivilklei­dung beiwohnen. Freilich, die meisten haben keine Zivilkleidung dabei!" (108)

 

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Die 1. Kameradschaft der1.Bereitschaft im Januar 1938 im Bergischen Land

 

Tatsache war, dass ab Mai 1936 - der Aufnahme des Lehrbetriebs auf der Ordensburg Vogelsang — besonders bei der evangelischen Kirche von Gemünd eine Bewegung von Kirchenaustritten begann. 1938 waren beinahe alle „Führeranwärter" und ihre Lehrer ausgetreten. (109)

Zu dieser Problematik der Kirchenaustritte recherchierte der evangelische Pfarrer von Gemünd, Lic. theol. H. Scheler, unter Berücksichtigung der früheren Chronik-Unterlagen von Pfarrer Rocholl:

Im Abkündigungsbuch werden seit Christi Himmelfahrt, 21. Mai 1936, fast Sonntag um Sonntag von der Kanzel herab die aus der Kirche Ausgetretenen namentlich genannt mit Angabe des Wohnorts (Vogelsang - Gemünd — Kall). So war es Brauch der BK-Pfarrer. Dazu gehört schon Mut, zumal ich weiß, dass Partei- und Polizeidruck solche Abkündigungen zu verhindern oder gar zu verbieten suchten! Manchmal waren es 10 und mehr Austritte.

Im Fall von Vogelsang-Bewohnern stellte Pfarrer Rocholl allerdings fest, dass es sich durchweg um „neu Zugezogene" handelte. Vom 21. Mai bis 26. Juli waren es 79 Aus­tritte, darunter nur ein Ehepaar aus Gemünd.

Da es sich um jeweils neu Zugezogene handelt, dürften es neben Lehr- und Ausbildungspersonal dieser Ordensburg vor allem die Ordensjunker selbst sein, die zu den Ausgetretenen zählen und die die Gelegenheit ihrer Einweisung in die Ordensburg benutz­ten, um mit der Kirche zu brechen. Wir merken, die Zeit, da der NS-Staat mit Hilfe der DC ein ihm genehmes Christen- und Kirchentum schaffen wollte, ist vorüber. Nachdem ihm der Einbruch in die Kirche aufs Ganze gesehen nicht gelungen ist, sucht er nun ihren Abbau durch radikale Beschneidung allen kirchlichen Einflusses.

Am 23. August 1936 registrierte Pfarrer Rocholl den 144. Kirchenaustritt, dann noch einmal einige am 30. August. - Danach wurde nichts mehr über Kirchenaustritte gesagt bis zum Jahresschlussgottesdienst, Silester 1936. Was war geschehen?

War Pfarrer Rocholl unter härteste Bedrohung gestellt worden? Oder hatte er möglicherweise brüderlichen Rat vertrauter Pfarrer angenommen (etwa des BK-Pfr. Hermann aus Hellenthal - Kirschseiffen, der öfters in Gemünd predigte und mit dem Pfarrer Rocholl sehr verbunden war)? Offenbar hatte er aber auch die Vorgänge auf Vogelsang über das preußische LKA in Düsseldorf an das Reichs-Kirchen-Amt in Berlin-Charlottenburg weitergeleitet und berichtet. Von dort erhielt er eine zunächst ganz persönliche Antwort von jenem Pfarrer Grünagel aus Aachen, den er als Synodalassessor ausgeladen hatte! Dieser war inzwischen Referent in der obersten Kirchenbehörde. Seine Antwort war recht kleinlaut:

 

BCh24.9.1936

Sehr geehrter Herr Kollege!
Bei allen Spannungen oder gar angehäuftem Misstrauen, das Ihrerseits gegen mich bestehen mag, zwingt mich Ihre Vorlage betr. Ordensburg Vogelsang, die über Düsseldorf, Preußischen L.K.A. zum R.K.A. und in meine Hand als Referent für diese Sache gelangt ist, Ihnen zunächst rein persönlich zu schreiben.

Ich habe außer Ihrer Sache, wie Sie sich wohl denken können, eine Fülle höchst problematischer Vorkommnisse wöchentlich bei den zuständi­gen Stellen zu besprechen. Darf ich Sie nun bitten, damit nicht alles durch politischen Jesuitismus im Sand verläuft, mir soviel farbenprächtiges Mate­rial wie möglich zu liefern. Unsere Denkschrift ist zwar schon gespickt voll allerhand schöner Gegenwartsblüten, aber die Ordensburgfrage liegt mir schon lange besonders am Herzen. Ich muss es Ihnen überlassen, ob Sie mich als Vertreter der Kirche in der Auseinandersetzung mit kirchenfeindlichen Kräften würdigen wollen oder ob Ihnen das auf offiziellem Dienstweg zu Erreichende genügt.

Ihre Eingabe werde ich am Dienstag zum Vortrag bringen. Weltanschauliches Material erlaube ich mir als Drucksache zu senden.“

Mit herzlichen Grüßen auch an Ihre Frau
Ihr ergebener Grünagel

 

Was auf diese Eingabe erfolgte, entzieht sich der Kenntnis von Pfarrer Scheler. Er entnimmt jedoch der Gemünder Kirchenchronik:

Jedenfalls stellt Pfarrer Rocholl Silvester 1936 fest:  Seit vier Monaten sind die erfolgten Kirchenaustritte in der Gemeinde hier in Gemünd nicht mehr abgekündigt worden. Zum Jahresschluss muss ich jedoch(!!) folgende Tatsache bekannt geben: In der Zeit vom 27. Mai bis zum 23. Dezember sind 297 Kirchenaus­tritte (innerhalb 211 Tagen) vom Amtsgericht Gemünd mir zugesandt wor­den, darunter 292 von zur Ordensburg Vogelsang Einberufenen, dort Beschäftigten oder deren Ehefrauen.

 Vom 11. November ab (das stimmt nicht - vgl. Eintrag vom 26. Juli) waren erste Austritte sonstiger Gemeindeglieder zu verzeichnen.' Dann folgen weitere Bekanntmachungen. Wie ernst Pfr. Rocholl seine Aufgabe, diese schmerzlichen Austritte bekanntzugeben, nahm, geht aus der uns einmal überlieferten Art hervor (28. Juni 1936), in der er diese Anstritte veröffentlichte. Er schließt mit den Worten: Jesus spricht:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich. - Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. (110)

Weitere Details über die Kirchenaustritte der Ordensburg-Angehörigen sind der 5.Beilage zum kirchlichen Amtsblatt 1937, Nr.4, Seite 3, zu entnehmen. Hier ist ersichtlich, welche Schritte der damalige evangelische Pastor Rocholl aus Gemünd unternahm. (111)

Die Kirchenfeindlichkeit der Nationalsozialisten in Gemünd erreichte am 20. November 1936 ihren ersten Höhepunkt. An diesem Tage besuchte Adolf Hitler die kleine Eifelstadt  und die Ordensburg Vogelsang. Durch Stadtratsbeschluss wurde zu diesem Termin der „Marienplatz" umbenannt. Er hieß bis zum Kriegsende „Adolf-Hitler-Platz". (112)

Literaturangaben

(Details im Buch Ordensburg Vogelsang 1934-1945, Seite 248)

96      LICHTENSTEIN, Heiner: Schulung  a. a. O. , S. 133.
97      Beispiele in der Zeitung „Der Angriff", Märzausgabe 1937 sowie in: „Stein und Erde", Fachliches Schulungsblatt   der DAF, Ausgabe C v. 13.11.1937 (Bundesarchiv Koblenz, Sammlung Schumacher, Nr. 257) und „Arbeitertum" Nr. 22 vom 15.2.1937
98      Informationen nach: Der Großdeutsche Reichstag, 4. Wahlperiode. Beginn am 10.4.1938 bis zum 30.1.1947(!!!), S.295. Weiterhin geben Aufschluss: „Der Ruhr-Arbeiter" vom 3. Dezember 1937. Zusätzliche Fakten vom Document Center in Berlin  werden aus datenschutztechnischen Gründen nicht publiziert.
99      Vgl. auch Kapitel 10 und 14 dieser Dokumentation
100    Vgl. Kapitel 17-19 (betr. Hans Dietel).
101    Vgl. Anm. 98 (Zeitung: „Der Ruhr-Arbeiter")
102    Bundesarchiv Koblenz NS 22/ vorl. 985, Collection No. 42,IV und auch Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv- Nr. DB 08.07
103    „Der Orden", Kameradschaftsblätter der Ordensburg Vogelsang vom 30.1.1938, S. 13 (Institut für Zeitgeschichte, München, Nr. DB 08.07)
104    Aus dem Textbuch „Ulrich von Hutten", Feierstunde der Ordensburg Vogelsang, 14.6.1939 (Kopie im Besitz des Verfassers)
105    Ebenda. - Die Worte stammen von Rudolf Alexander Schröder. Weise von Heinrich Spitta aus „Deutsches Bekenntnis", Verlag Peters in Leipzig
106    Schreiben des späteren Kommandanten von Vogelsang, Hans Dietel vom November 1932 an seine damalige Verlobte (Kopie im Besitz des Verfassers)
107  Geheimanweisung von Reichsleiter Bormann, Herbst 1941, bezüglich Verhältnis von Nationalsozialismus und Christentum, in:            NEUHÄUSLER, Johann: Kreuz und Haken­kreuz, München 1946, S.358f.
108    Ebenda, S. 67
109    ROCHOLL, Gustav Adolf: Niedergang und Auferstehen - Die letzten 66 Jahre einer 400 Jahre alten evangelischen Diasporagemeinde der Nordeifel, Gemünd 1953, S. 16/17.
110    Pfarrer Lic. theol. H. SCHELER: Was geschah in der Kirchengemeinde  Gemünd unter dem Nationalsozialismus? Auszüge aus einem zur Verfügung gestellten Manuskript (1986), S. 6/7.
111    Vgl. Anm. 109, S. 17 (Rocholds dort gemachten Angaben wurden vom Verfasser dieser Dokumentation jedoch nicht überprüft).
112    KRUFF, Wilhelm: Chronik der Pfarre St. Nikolaus zu  Gemünd, a. a. O., S. 75.

 

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Die 5. Auflage (Juni 2006) des Buches von Hans - Dieter Arntz, Ordensburg Vogelsang 1934-1945 – Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich, erscheint im Verlag Landpresse, Weilerswist.  ISBN: 3-935221-69-X
Die AUSLIEFERUNG erfolgt durch den Druckservice Frank Lanzrath

 

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E-Mail: hans-dieter-arntz/at/gmx.de
Homepage: www.hans-dieter-arntz.de

 

Besucher des Nationalparks Eifel können das Buch auch für 17,- EUR  im Besucherforum der Burg Vogelsang erwerben

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