Die Geschichte der Juden in der Eifel

Quelle:  Hans-Dieter Arntz: Sofort nach der Machtübernahme begann die große Leidenszeit, in: Jahrbuch des Kreises Euskirchen Jg. 1981, S. 146 -156.
20.05.2007

Sofort nach der Machtübernahme begann die große Leidenszeit

Im Sommer 1942 in den Osten transportiert.

Nicht erst seit „Holocaust“ interessiert man sich verstärkt für die Geschichte der Juden in der Eifel und am Eifelrande. In Euskirchen veröffentlichte bereits um die Jahrhundertwende der Stadthistoriker Karl Gissinger in der „Euskirchener Zeitung“ einen Beitrag zur Geschichte der ansässigen Juden 1) und etwa 25 Jahre später erweiterte Peter Simons 2) die Chronologie und Forschung nach Sichtung und Auswertung vieler geschichtlicher Quellen. So konnte der Verfasser gelegentlich auf historische Details zurückgreifen, die andernfalls durch archivalische Verluste im Zweiten Weltkrieg nicht zur Verfügung gestanden hätten.

Anlässe zu chronologischem Rückblick gab es eigentlich kaum. Beide Heimatforscher faßten die jüdischen Mitbürger als selbstverständlichen Bestandteil wirtschaftlichen, kulturellen und manchmal auch politischen Lebens auf. Um so ergreifender wirkt es, wenn am Vorabend nationalsozialistischer Machtergreifung und Pogromen der die Euskirchener Mentalität stets richtig einschätzende Pädagoge Peter Simons konstatiert: „Das Verhältnis der jüdischen Einwohnerschaft zu ihren christlichen Mitbürgern ist das denkbar beste: Judenhaß und konfessionelle Unduldsamkeit sind fremde Gewächse, die auf Euskirchens Boden nimmer gedeihen.“

Aber „so etwas“ ist in Münstereifel und Euskirchen auch passiert! Judenverfolgung, „Reichskristallnacht“ und Deportationen sind inzwischen als historische Fakten von vielen jungen Menschen internalisiert und en Schülern als abfragbares Wissen präsent. Viele Erwachsene, die den Nationalsozialismus erlebt haben, wollen daran nicht mehr erinnert werden. Den Verfasser dieses Artikels hat es im Unterricht bedrückt, wie „geschichtlich“ Judentum und Nationalsozialismus verstanden und abgehandelt wurde, ja, daß die Makroperspektive eine eigentlich verständliche Distanz aufkommen läßt. Diese kulminiert heute in der resignierenden Feststellung: Das war damals so ...

Der immer mehr vernachlässigte heimatspezifische Aspekt scheint die verblüffende Erkenntnis ... „und genauso war es auch bei uns in Münstereifel und Euskirchen“ zu verdrängen. Willibald Kolvenbach aus Münstereifel und Klaus H. S. Schulte 3) sind die einzigen, die sich in den letzten 20 Jahren auch mit dem Eifeler Judentum nach 1933 befaßt haben. Der vorliegende Beitrag versucht nachzuweisen, wie sich Antisemitismus und nationalsozialistische Rassenpolitik in einer kleinen Kreisstadt und ihrer Umgebung wiederspiegeln, zumal angeblich die ländliche Mentalität der städtischen konträr zu sein scheint.

Historischer Rückblick

Das Vorgestern in der Geschichte Euskirchener und Münstereifeler Juden beginnt nachweislich mit dem Jahre 1349 und den dem Deutzer und Düsseldorfer „Memorbuch“ entnommenen Nachrichten, nach denen u. a. die jüdischen Gemeinden zu Bonn, Köln, Düren, Lechenich, Münstereifel und Euskirchen durch Feuer und Schwert ausgerottet wurden. Damals grassierte in ganz Europa die Pestseuche, der „Schwarze Tod“, und forderte ungeheure Opfer an Menschenlieben. Und wie bei früheren Anlässen, so fiel der blinde Fanatismus auch jetzt wieder über die Juden her, denen man wegen angeblicher Brunnenvergiftung die Schuld an dem maßlosen Unglück zuschob. Etwa 1349 fiel überall in unserer Gegend das Landvolk über die Juden her und erschlug sie fast alle. Dieser Haßausbruch wird begreifbar, wenn man bedenkt, daß etwa 25 Millionen in den ohnehin oft schwach besiedelten Landstichen dahingerafft wurden. Für die Seuche als Strafe Gottes suchte man Sündenböcke, zu denen man die Juden machte, die, ausgeschlossen von den Zünften und Kaufmannsgilden, und allein angewiesen auf Geldverleih, bedeutende Reichtümer aufgehäuft hatten. So konnte man die Judenverfolgung von 1349 in den größeren Städten vielleicht als eine „gewaltsame Emanzipation von der fremden Handelsherrschaft“ 4) auffassen, als deren Folge viele Besitzlose ihre Schuldbriefe ungestraft vernichten konnten. Wenn auch der Besitz Euskirchener Juden im großen und ganzen begrenzt war, so kann doch bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein nachgewiesen werden, daß zu den jeweils verschiedenen Anlässen rassistische und pekuniäre Gründe bei den Verfolgungen eine Rolle spielten. Die Ausschreitungen eines jeden Massenwahns sind stets die Folge von Einschüchterungen und Entrechtung, die eine Minderheit von Unmenschen befähigt, ihren Willen der leicht verständigen, leidlich rechtschaffenden Mehrheit der Bevölkerung aufzuzwingen. So bereiteten sogar Gesetze und Verordnungen die oft ablehnende Haltung der Euskirchener und Münstereifeler gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern vor. Die Verbote der jülichen und kurpfälzischen Zeit konzentrierten sich darauf, daß Juden keinen Grundbesitz, kein Bürger- und Zunftrecht, ja, kein Recht auf öffentliche Ämter, Militärdienst etc. haben durften. Am 14. März 1685 konstatierte der Euskirchener Magistrat, daß Juden ihre Ziegen nur in Ställen zu halten hätten, da sonst „christliche“ Hecken und Weiden entehrt würden.

„Leibzoll“ und besondere „Geleitbriefe“, eine vorgeschriebene Kleidung, eine Sondersteuer, das alles wurde jahrhundertelang als eine Diskriminierung empfunden und prägte gleichzeitig die Haltung der Mitbewohner. Da jüdische Begräbnisse schon im Mittelalter gestört wurden, spielte für die Münstereifeler und Euskirchener Juden eine Urkunde vom 1. September 1467 eine Rolle, in der Wilhelm II. von Loen, Herr von Jülich, ihnen einen Morgen Land am Ende des Hofes zu Gawe als Begräbnisplatz zu ewigen Zeiten verlieh und den Angehörigen beim Begraben ihrer Toten durch gutes Geleit ungestörten Hin- und Herzug gewährleistete.

Antisemitische Aktionen im 19. Jahrhundert

Das Studium der Lokalpresse (seit etwa 1840) ergab, daß die Juden recht gut, aber unauffällig integriert waren. Wohlhabende Metzger und Makler, Viehhändler und Geschäftsleute waren in Münstereifel und Euskirchen kein politischer Machtfaktor, zumal die Ergebnisse zu den Reichstagswahlen im Kreis Euskirchen bis 1900 bei geringfügigen Abweichungen der Wähler den Trend zu einer einzigen Partei zeigten. Kolvenbach berichtet, daß im letzten Jahrhundert in Münstereifel das Verhältnis der Juden zu den Christen kaum beklagt wurde. Zehn Jahre, nachdem die Juden die bürgerliche Gleichberechtigung erhalten hatten, wurde 1857 der Kaufmann Levi, dessen Sohn als erster Jude in Münstereifel die Reifeprüfung abgelegt hatte, zum Stadtverordneten gewählt. Als er 1860 starb, schrieb man über das ehrenvolle Begräbnis: „Also das erste Mal, daß ein jüdisches Begräbnis hier frei von Pöbelschikanen durchgeführt worden ...“ Die jüdischen Riten weckten schon immer Neugier. Alte und unwahre Berichte lebten im Volksmund weiter. So schrieb der „Eifeler Correspondent“ 1860 über ein jüdisches Begräbnis, bei dem Jugendliche in ungehöriger Weise dem Leichenzug gefolgt waren: „Es haben sich seit Jahren die Beziehungen zwischen den christlichen und jüdischen Konfessionen so gebessert, daß man nicht weiß, ob man die Unart, dem jüdischen Leichenzug störend nachzurennen, die Begräbniszeremonien, worüber hie und da kräftig gekohlt wird, aufzuhalten, auf Rechnung der Intoleranz oder vielmehr der Unwissenheit und einer noch etwas stark im Rückstand sich befindenden Zivilisation setzen soll.“ Der Bürgermeister äußerte sich dazu: „Ähnliche Szenen kommen wohl bei jedem israelischen Leichbegräbnis vor, um so mehr, wenn die Beerdigung an einem Sonntage stattfindet.“

Die wachsende antijüdische Strömung nach 1885 konnte das Zusammenleben von Juden und Christen in Münstereifel und Euskirchen nicht wesentlich beeinträchtigen. Die Euskirchener Zeitung vom 16. 1. 1886 berichtete zwar von antisemitischem Schwindel, der sich auf nach Palästina ausreisewillige Juden konzentrierte und angeblich zu Zahlungen verleitete, aber dieses Gerücht wurde bald widerrufen.

Wenn auch die Einweihung der neu aufgebauten Euskirchener Synagoge Ende August 1887 unter Anteilnahme der gesamten Bevölkerung gefeiert wurde, so wollte dennoch eine Notiz der Euskirchener zeitung vom 22. 1. 1887 nicht vergessen werden: „In verflossener Nacht wurde die in einem Pfeiler der im Bau begriffenen Synagoge vor einiger Zeit eingemauerte urkunde nebst Münzen etc. gestohlen. Arbeiter fanden heute Morgen den betreffenden Pfeiler total zerstört. Wahrscheinlich hatten die Diebe von dem mit vermauert gewesenen Gelde Kenntnis und war letzteres wohl das Ziel ihrer Wünsche. Von den Spitzbuben fehlt bis jetzt jede Spur.“

Das Jahr 1893 mußte aufmerksame Juden beunruhigen. Die Euskirchener Zeitung vom 23. 8. 1893 berichtete von einer antisemitischen Versammlung in Münstereifel, die mit einem Unglück endete:

... Im Saale der Schloßruine, hoch auf dem Schloßberge, hat dieselbe getagt, und von allen Seiten waren sie herbeigeeilt, die biederen Bewohner der Voreifel ..., um den Lehren der allerneusten volksbeglückenden Lehre zu lauschen. Aber auch die benachbarten, schon etwas mehr von der Cultur beleckten und aufgeschlossenen Ortschaften - Euskirchen nicht ausgenommen - hatten ihr Contingent gestellt, so daß etwa 1000 bis 1100 Personen den Saal füllten ... Eine Anzahl „großer Männer“, zum Teil aus weiter Ferne, aus Zülpich, Rheinbach, Köln etc. hielten ein strenges Gericht über das ganze auserwählte Volk ab, und nicht manches oder gar kein gutes Haar blieb an der armen Judenschaft. Aber auch an Worten der Warnung und der Versöhnung war kein Mangel ..., und der Herr Oberpfarrer von Münstereifel hat sich hier unstreitig Verdienste erworben. Ob die ganze Bewegung in unserem sonst so friedlichen Nachbarstädtchen noch weitere Wellen schlagen wird, ist nach dem Verlaufe der letzten sonntäglichen Versammlung zu bezweifeln. Leider sollte die seltsame Zusammenkunft ein schreckliches Nachspiel haben. Beim Auseinandergehen der Teilnehmer stürzte die morsche Brücke, welche über den Erftfluß zur Burgruine führt unter der Last und dem Gedränge von 30 bis 40 Menschen ein und sämtliche Passanten fielen in das etwa 15 Fuß tiefe, glücklicherweise fast leere Erftbett ...

Das Unglück, bei dem mehrere Menschen schwer verletzt wurden, hatte sogar in der Berliner Zeitung ein tratschiges Echo: ... Dem Vorsitzenden des deutsch-sozialen Vereins (Herrn Breitwisch) sei gesagt worden, ein Fuhrmann aus Euskirchen habe einem Schornsteinfeger ebendaselbst gesagt, es sei ihm gesagt worden, eine Frau habe zu ihrem Mann gesagt: „Wenn Du auch mein Mann bist, so zeige ich Dich doch an, daß Du in der Nacht für Judengeld die Brücke angesägt hast“. Die Sache sei - nach dem Bericht des Redakteurs - der Staatsanwaltschaft in Bonn angezeigt worden. Der Zeitungsartikel endete mit der Bemerkung: „Die Geschichte ist gerade so wahr als das andere ebenfalls hier rundgetragene Märchen, es seien von Seiten der Juden zehn Kölner Rheinkadetten gedungen gewesen, um die obige Versammlung zu sprengen!“ 5)

 

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Judenhetze seit 1934 in der Euskirchener Ausgabe des Westdeutschen Beobachters
Repro: Arntz

Unsere Vorfahren schon im Kampf gegen das Judentum

Die ersten Spuren

..... In den Jahren 1348-1350 wütete in unserem Vaterlande eine furchtbare Pestseuche, der „Schwarze Tod“ genannt. Die hatte ihren Namen von den schwarzen dunklen Punkten, die sich bei dieser Pestart unter der Haut zeigten. Der schwarze Tod breitete sich von Italien aus und wütete bald in fast allen Gauen unseres Vaterlandes. Auch am Rhein forderte er seine Opfer. Mancherorts wütete er so stark, daß er ganze Gemeinden auseinanderriß. Die Einen starben, die Anderen flohen von Entsetzen und wahnsinniger Furcht gepackt in ihre Heimat. Fromme Gesellschaften zogen, sich öffentlich geißelnd, von Ort zu Ort. Von diesen Gesellschaften vielfach angeregt, breitete sich dann das Gerücht aus, die Juden hätten in Erinnerung an frühere Judenverfolgungen, die sie seit dem 2. Jahrhundert über sich ergehen lassen mußten, die Brunnen vergiftet. Von tiefstem Mißtrauen gegen die fremde Rasse aufgestachelt, kam es dann zu wilden Ausfällen der Volksmassen gegen die Juden. Eine neue furchtbare Judenverfolgung brach aus. Man brannte die Judenviertel aus, stach und schlug sie nieder, wo sie sich sehen ließen. In Köln brannte in einer einzigen Nacht des Jahres 1349 das ganze Wohnviertel der Juden nieder. Etwa ein halbes Jahrhundert später wies die Stadt Köln alle Juden aus.

..... Uraltes in blutsmäßigen Anlagen verankertes Mißtrauen, soziale Auflehnung gegen die „kaiserlichen Kammerknechte“, denen alle Stände verschuldet waren, sind die eigentlichen Ursachen jener Revolution gewesen. Aus seiner ursprünglichen Veranlagung heraus lehnte sich das Volk gegen das verderbliche Fremde auf, und diese Tatsache gibt dem Gegenwartsdeutschen in der Beurteilung der damaligen Vorgänge den Ausschlag. Die in den nachfolgenden Jahrhunderten fortschreitende staatsbürgerliche Sicherung der Juden lagert in der Entwicklung einer Lebens- und Weltanschauung, die keineswegs im deutschen Volksleben begründet lag, vielmehr darauf ausging, altes völkisches Gemeinschaftsleben verschwimmen zu lassen und zu zersetzen.

.... Liberalismus und Marixmus! Nur unter diesen beiden Geistesrichtungen konnte das Judentum seine staatsbügerliche Gleichberechtigung und schließlich die wirtschaftliche Herrschaft erringen. Zu keiner Zeit hat das Judentum das wohl sicher erkannt, als in der gegenwärtigen. Der National-Sozialismus erledigt heute Liberalismus und Marxismus; er ist nicht damitzufrieden, sie nur kalt zu stellen, nein, seine ganzen Maßnahmen gehen darauf aus, beide in allen geistigen und dinglichen Formen auszumerzen. Daß das Judentum dabei viele seiner staatsbürgerlichen Errungenschaften bedroht sieht, ist nur zu begreiflich, weil sie ja nur einer liberalistisch-marixistischen Zeitepoche abgewonnen wurden und keineswegs im Denken eines Volkes, das sich seiner völkischen Eigenart wieder bewußt wird, Bestätigung finden werden. Der National-Sozialismus, der die Wiederbelebung und Entfaltung der germanischen Volksseele in allen Kulturgebieten als seine große Aufgabe erkennt, der von hier aus das deutsche Volk wieder zu Wohlfahrt und Größe führen will, gewinnt auch seine Einstellung zum Judentum aus der Geschichte des deutschen Volkes und zwar aus jenen Zeiten, in denen noch überwiegend völkisches Denken und Gemeinschaftsgeist die Lebensformen des deutschen Volkes gestalteten. Der National-Sozialismus wird dem Juden allen Schutz zukommen lassen, den er in einem anderen Volke erwarten darf. Aber zum Wohl des deutschen Volkes baut er seine neue Wirtschaftsordnung und Gemeinschaftsordnung und knüpft dabei mit soviel deutscher Gewissenhaftigkeit an altes völkisches Gut an, daß das Judentum sich in vielen Dingen ausgeschaltet fühlt. Aber wenn es daraus eine neue Judenverfolgung wittern will, so ist dies im Grunde nur die Erkenntnis und das Gefühl seiner Volksfremdheit, sowie die unangenehme Aussicht, daß seine Rolle im zukünftigen Staate erheblich an Macht u. Bedeutung einbüßen wird.

Die für Dezember 1893 angesetzte „antisemitische Volksversammlung“ in Euskirchen hatte einen nicht erwarteten Verlauf. Das im Euskirchener Volksblatt und auf einem Flugblatt angekündigte Ereignis bewies, daß Judenhaß auf Euskirchener Boden keinen Erfolg hatte. Sicher nicht ohne Einwirkung einflußreicher Juden war die Ankündigung in der Euskirchener Zeitung abgelehnt worden. Die „Tonhalle“ hatte plötzlich ihre Genehmigung zurückgezogen und stattdessen das Politikum zum karnevalistischen Ulk degradiert:

...In richtiger Würdigung der augenblicklichen Verhältnisse nahmen dann die Mitglieder der in der Tonhalle residierenden Carnevals-Gesellschaft „Generalitätsulk“ die günstige Gelegenheit beim Schopfe und setzten eine regelrechte ulkige Unterhaltung in Szene. Es war doch entschieden schöner, einen Narrenpräsidenten mit Geschick die Pritsche schwingen zu sehen, als einen Hauptmann a. D. als Vorsitzenden einer möglicherweise in Radau ausartenden Versammlung fortwährend angucken zu müssen oder den Reichstagsabgeordneten a. D. den Talmud in gelehrten Redensarten auseinandersetzen zu hören ... 6)

Bis zum Beginn des Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen - etwa bis 1929 - fielen Juden in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft der Städte Euskirchen und Münstereifel kaum auf. Mit Ausnahme der Schändung zweier Judenfriedhöfe - Kirchheim und Flamersheim im Jahre 1928 - gab es eigentlich keine Anzeichen von rassistischem Vernichtungswillen.

Nationalsozialismus in Euskirchen und Münstereifel

Als 1933 das nationalistische Regime in Deutschland an die Macht kam, lebten in Münstereifel 65 jüdische Bürger. Von diesen waren zehn Viehhändler, vier Kaufleute und drei Metzger. Das größte Geschäft der Textil- und Schuhbranche führte Oskar Nathan. Sein gesamter Warenbestand hatte 1933 einen Wert von 120.000 Reichsmark. Kolvenbach resümierte, daß auch die übrigen jüdischen Geschäfte als gutgehend zu bezeichnen waren. Die Viehhändler standen sich nicht schlecht. Wie die Euskirchener Kollegen hatten sie ihre Handelstätigkeit größtenteils in die nähere und weitere Umgebung bis nach Bonn und Köln verlegt, weil die Geschäfte auf dem Markt aus mehreren Gründen nicht mehr den gleichen Gewinn wie früher brachten. Andreas Kaufmann, Markus David, Andreas Lucas und verschiedene Mitglieder der Familie Wolff betrieben einen ertragreichen Viehhandel.

Während die jüdische Gemeinde der Stadt Euskirchen im Jahre 1926 noch etwa 300 Mitglieder gezählt hatte, verringerte sie sich bis zum 16. Juni 1933 auf 231 „Glaubensjuden“. Bekannte jüdische Geschäfte und Unternehmen waren zum Beispiel das Kaufhaus Herz-Tietz an der Bahnhofstraße (heute Eifel-Kaufhaus), Viehhandel Jülich, Kahn, Rothschild, Schwarz, Seligmann und Norbert Fröhlich, das Modehaus Aron auf der Neustraße, Lederhandel Wertheim & Breschinsky auf der Wilhelmstraße, das Hutgeschäft David, das Stoff- und Kurzwarengeschäft Siegfried Hanauer, die Metzgereien David Fröhlich, Israel, Julius Kahn, Adolf Meyer in der Klosterstraße, Mainzer, Horn und Andreas Meyer ... Eng verbunden mit dem Geschäftsleben waren auch das Schuhgeschäft Chimowitsch in der Kirchstraße, Gemischtwaren Max Lion in der Hochstraße, die Gastwirtschaft Abraham Meyer in der Mühlbachstraße, die Glaserei Nathan in der Bischofstraße, das Bekleidungsgeschäft Weinberg in der Neustraße, Trikotagen Fromm...

Im Stadtrat hatten lange mitgewirkt: Dr. Oster, Siegfried Hanauer, Dr. Heilber, Siegmund Schweizer ... 7)

Um das Verhältnis Nationalsozialismus-Judentum für Euskirchen darstellen zu können, müßte man eine längst fällige „Chronik“ der NSDAP im Kreise Euskirchen erstellen. Feststeht, daß eine Entwicklung der „Hitler-Bewegung“ im Kreise Euskirchen und in der Eifel anders verlief als im rechtsrheinischen Deutschen Reich. Erst mit Ablauf der französischen Besatzungszeit 8) zum 1. Dezember 1929 sind deutlich Ansätze nationalsozialistischer Aktivität nachzuweisen. Bis dahin entfällt somit jegliche Judenhetze, wie man sie von Berlin und Bayern her kannte.

In der Selbstdarstellung der NSDAP, Ortsgruppe Euskirchen 9), klagten die Nazis, daß die Besatzungstruppen von den Juden des öfteren gegen „die nationalsozialistische Bewegung“ zu Hilfe gerufen worden wären. Dies bestätigt die Tatsache, daß etwa seit Juni 1929 eine neue politische Komponente in der Kreisstadt spürbar wurde. Im Oktober des gleichen Jahres konnte eine Ortsgruppe gegründet werden, die ihre Weltanschauung aus den wenigen Exemplaren des Westdeutschen Beobachters schöpfte, der von der Besatzungsbehörde verboten worden war und eingeschmuggelt werden mußte. Propagandamärsche - verstärkt durch die Kölner SA und SS - Zusammenstöße mit einheimischen Kommunisten, Versammlungen im Saal der Tonhalle und im Tivoli bewirkten eine in dieser Form gewünschte Propaganda und einen Zulauf potentieller Sympathisanten. Tatsächlich konnten bei der kurz darauf folgenden Stadtratswahl zwei Abgeordnete, einige Zeit später bei der Kreistagswahl ein Abgeordneter durchgebracht werden, so daß erstmals Nationalsozialisten im Parlament der Stadt Euskirchen und des Kreises mit tätig waren.

Noch galt der Kampf Euskirchener Nazis mehr den Kommunisten als den Juden. Straßenschlachten standen auf der Tagesordnung. Als am 25. Mai 1930 der erste „Deutsche Tag“ abgehalten wurde, an dem die SA in einer Stärke von 800 Mann und einem SS-Sturm aus Köln teilnahm, erlebten die Euskirchener Bürger den braunen Terror vor ihrer eigenen Haustüre. Allein 400 auswärtige Kommunisten waren mit Fahrrädern und Lieferwagen in die Kreisstadt gekommen, um die Versammlung am Markt zu sprengen. Die Polizei mußte eingreifen, um den Kampf zu beenden. Im September 1930 gab es ähnliche Kämpfe in Stotzheim und im Juli 1932 Schießereien an der Erftbrücke. Die Bonner Große Strafkammer mußte allerdings am 21. 10. 1932 zwölf von zehn Angeklagten vom Landfriedensbruch und Waffenmißbrauch freisprechen 10).

Die beiden Ortsgruppen Münstereifel-Nord bzw. Münstereifel-Süd wurden erst im Oktober 1932 bzw. Januar 1931 gegründet. Doch sofort nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten begann auch für die jüdischen Bürger von Münstereifel die große Leidenszeit. Schon in den ersten Tagen ließ man keinen Zweifel daran, das antisemitische Parteiprogramm in die Tat umzusetzen, wenn man auch im Anfang noch Rücksicht auf die bürgerlichen Kräfte nahm und den Schein der Legalität zu wahren suchte. Das Gesamtziel der Judenpolitik stand fest: Ausscheidung der Juden aus Politik, Kultur und Wirtschaft sowie „Säuberung“ des Staates von allen „nichtarischen Elementen“.

Da 1933 die Münstereifeler und Euskirchener Juden weder in der Politik noch in der Kultur eine bedeutende Rolle spielten, mußten sie wirtschaftliche Repressalien besonders hart treffen - im Gegensatz etwa zu Bonn, wo sie schon um 1860 praktisch in allen Berufen vorkamen. Darunter hatten auch die Juden aus Münstereifel und Euskirchen zu leiden, die zum Beispiel in den vielen Kölner Unternehmen beschäftigt waren.

Erster Juden-Boykott am 1. 4. 1933

Ein Boykott jüdischer Geschäfte wurde in der Lokalpresse diskutiert. Antisemitische Äußerungen wurden auch am „Tag der erwachenden Nation“ geäußert, über den die Euskirchener Zeitung am 4. 3. 1933 überschwenglich berichtete. Weitsichtige Zentrums-Anhänger und mancher jüdische Geschäftsmann verfolgten kritisch den Bericht über den Fackelzug der Euskirchener SA, SS und des Stahlhelms, der begeisterten Hitler-Jugend und der Polizeistaffel mit Hakenkreuzbinden. Der 21. März 1933 wurde dann ein „Tag nationaler Hochstimmung“ 11). Auf dem Marktplatz - also in unmittelbarer Nähe vieler jüdischer Geschäfte und der Synagoge - fand etwas Gespenstisches statt, das Böses für die Zukunft erwarten ließ. Die Euskirchener Zeitung berichtete:

Auf dem Markt formierte sich der Zug um einen brennenden Holzstoß, und hier geschah etwas, das als Ausdruck der geeinten Kraft und des geeinten Willens gewertet werden muß: Hier wurden Kommunismus und Marxismus der Vernichtung übergeben. Die Banner mit Hammer und Sichel Moskauer Prägung, der Sozialdemokratie und die Fahnen Schwarz-Rot-Gold wurden hier unter dem Beifall der Tausenden verbrannt ... Diejenigen, die seit dem Umsturze der nationalen Bewegung gegen den undeutschen Geist der Nachkriegszeit standen, haben in dieser Stunde ein besonderes Recht darauf, auf diese Kampfzeit zurückzuschauen...

Zunächst führten die Nationalsozialisten mit Rücksicht auf die noch ungesicherte Herrschaft im Innern und auf das Ausland die antijüdischen Maßnahmen mit einer gewissen Zurückhaltung durch. Der Euskirchener und Münstereifeler Durchschnittsbürger, der seine Informationen hauptsächlich durch Zeitung und Radio erhielt und als Kleinstadtbewohner selten vergleichend kommunikativ sein konnte, wurde innerhalb von wenigen Tagen vollständig verunsichert. Am 28. 3. 1933 teilte ihm die Euskirchener Zeitung mit, daß das Ausland Deutschland wegen der Diskriminierung der Juden verachte und Protestversammlungen organisiere. Am Tage darauf protestierte die Reichsregierung gegen solche Veranstaltungen, ließ aber zu, daß die Parteileitung einen detaillieren Plan für einen geplanten Boykott am 1. 4. 1933 veröffentlichte. Der Euskirchener Zeitungsleser erfuhr u. a., daß „der Boykott eine reine Abwehrmaßnahme gegen das deutsche Judentum“ wäre, daß er „nicht verzettelt, sondern schlagartig“ 12) am Samstag, dem 1. April 1933, einsetze und solange fortgesetzt würde, „bis eine Anordnung der Parteileitung die Aufhebung befiehlt.

Am 30. März 1933 publizierte die Lokalpresse ein Telegramm des Generaldirektors der Leonhard Tietz A.G., Alfred Leonhard Tietz, an die Internationale Warenhaus-Vereinigung in Paris: „Drahtet allen Mitgliedern: Erbitten dringend, dortige Presse und Öffentlichkeit aufzuklären, daß alle Greuelmeldungen und Nachrichten über Ausschreitungen in Deutschland lügenhaft sind. Mit allen Mitteln auf Unterlassung sinnloser Hetze hinwirken, die unser Ansehen und die hier überall vorhandene Ruhe und Ordnung gefährden.“ (Telegramm wurde aufgegeben am Montag, dem 21. 3. 1933)

Dennoch, am 1. April zogen überall im Deutschen Reich SA- und SS-Posten vor jüdischen Geschäften auf und versuchten, deren Betreten zu verhindern. Überall wurden Firmen, Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte boykottiert. Auch vor den jüdischen Geschäften in Euskirchen und Münstereifel marschierten SA-Posten auf, beklebten die Schaufenster und hinderten die Kunden am Betreten der Geschäfte. Wer sich nicht einschüchtern ließ und trotzdem bei Juden kaufte, wurde von der SA öffentlich als „Judenknecht“ gebrandmarkt.

Der erste Juden-Boykott wurde am 3. 4. 1933 lapidar in der Euskirchener Zeitung kommentiert:

„Die Boykott-Aktion"

Am Samstag trat auch hier wie im ganzen Reiche die Boykott-Aktion der jüdischen Geschäfte in Kraft. Vor denselben warnte ein Nationalsozialist vor dem Einkauf; Plakate an den Fenstern verwiesen auf den christlichen Handwerker und Kleinkaufmann. Zu Ruhestörungen oder Belästigungen ist es nirgends gekommen, da eine größere Anzahl Geschäfte, auch das Kaufhaus Tietz, geschlossen hatten. Bahnhof- und Neustraße zeigten ein außerordentlich belebtes Bild.“

Von vielen Einheimischen wurde der Boykott nicht für ernst genommen, zumal das große Warenhaus J. Herz-Leonhard-Tietz (heute Eifelkaufhaus Teitge) am Sonntag, dem 9. April 1933, den Verkaufstag nachholte und am Tage vorher groß annoncierte: „Morgen Sonntag ist unser Geschäft von 1-6 Uhr geöffnet!“

Adolf-Hitler-Straße

Die Zeitgeschichte veränderte in wenigen Tagen das Denken und Fühlen vieler Menschen. Auf Antrag des Euskirchener Stadtverordneten Pf. wurde - laut Zeitungsbericht vom 4. 4. 1933 - ein Telegramm an Adolf Hitler gesandt, in dem er um die Annahme der Ehrenbürgerschaft gebeten wurde. Die Umbenennung der Hochstraße in Adolf-Hitler-Straße löste im Stadtrat gewaltigen Beifall aus. 13) Der Nationalsozialismus und Antisemitismus wurde für den jüdischen Mitbürger immer spürbarer!

Das seit Jahrzehnten in Euskirchen bekannte Gemischtwarengeschäft Lion mußte seine Anschrift ändern: es befand sich nicht mehr auf der historischen Hochstraße, sondern auf der Adolf-Hitler-Straße!

Eine Flut von Verordnungen und Gesetzen - bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges waren es über 200 - schränkten die Rechte der Juden auf allen Gebieten mehr und mehr ein. Die auch im Kreis Euskirchen einsetzende Hetz- und Greuelpropaganda verstärkte die Entfremdung und ein gewisses Mißtrauen gegenüber den jüdischen Mitbürgern. Im Gegensatz zum Westdeutschen Beobachter, der am 1. 7. 1933 Nachfolger der Euskirchener Zeitung geworden war, hielt sich die Münstereifeler und Euskirchener Bevölkerung im allgemeinen zurück.

Die Unruhen der letzten Jahre verhießen nichts Gutes. Die ruppigen Attacken gegen die Juden wurden zwar hingenommen, aber mancher hatte den Ausdruck „Jüdd“ in seinem Sprachschatz übernommen.

Wenn auch noch am 17. August 1939 in Euskirchen eine jüdische Hochzeit registriert wurde 14), so sei doch darauf hingewiesen, daß „Mischehen“ seit den Nürnberger Gesetzen von 1935 verboten waren.

Der Auftakt zur Judenhetze in der Euskirchener Lokalpresse begann am 13. Januar 1934 mit der Artikelserie im Westdeutschen Beobachter: „Unsere Vorfahren im Kampf gegen das Judentum“. Die Thematik wurde von einem Parteigenossen aus Müggenhausen fortgesetzt: „Friedrich der Große schon im Kampf gegen das Judentum!“ 15) Zwei Wochen später lobhudelte die Lokalredaktion des Westdeutschen Beobachters die deutsche Toleranz gegenüber Juden 16), und am 17. 2. 1934 folgte ein bebilderter Bericht über „Bastardkinder“ am Rhein, ein Artikel, der besonders die ehemalige französische Garnisonsstadt Euskirchen anging. „Rassenkunde in der Schule“, „Rassenschändung“ in Kirspenich und „Jülicher Betrug in Lommersum“ waren anregende Zeitungslektüre in den nächsten Monaten. Die Quintessenz eines jeden Artikels über Juden: „Macht keine Geschäfte mit Juden!“

Trotz vieler Variationen des Propagandaterrors und aller Einschränkungen hofften auch die Juden in Münstereifel und Euskirchen noch 1934, daß es nach den ersten Stürmen zu einer Beruhigung kommen würde. Der Ausschaltungsprozeß ließ vorläufig nur das Wirtschaftsleben unberührt. Man befürchtete einerseits einen Boykott des Auslandes, andererseits wollte man bei der gewaltigen Aufrüstung und der Erfüllung der Vierjahrespläne jede Unruhe im wirtschaftlichen Leben vermeiden. Während die größeren Geschäfte in der Neustraße oder Wilhelmstraße noch unbehelligt bleiben, wurden die kleineren Geschäfte mehr und mehr von den Käufern gemieden. Den Geschäfts- und Handelsleuten ging es in Münstereifel genauso wie in Euskirchen. Seit 1933 waren die jüdischen Viehhändler dauernden Belästigungen ausgesetzt. Die Bauern handelten - aufgrund häufiger Denunzierungen im Westdeutschen Beobachter - nur noch ungern mit Juden, weil sie weitere Nachteile befürchteten. Einzelne Gehöfte in der Umgebung verboten jüdischen Händlern den Zutritt. Schilder wiesen darauf hin, daß Juden unerwünscht seien. Die Erwerbsmöglichkeit wurde dadurch erheblich vermindert.

 

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1935: Pranger-Tafel zur Brandmarkung „artvergessener Volksgenossen, die noch beim Juden kaufen“
(Westdeutscher Beobachter)
Repro: Arntz

 

Der Euskirchener Viehhändler Baer von der Baumstraße kaufte häufig Pflugochsen in Frauenberg. Seine Kriegsverletzung im 1. Weltkrieg und sein stets angeheftetes Eisernes Kreuz - auch beim täglichen Viehhandel - erleichterten seine Arbeit noch Mitte der 30er Jahre. Andreas Lucas aus Münstereifel, der laut Steuerlisten noch vor der „Machtergreifung“ ein Nettoeinkommen von 6.000 bis 7.000 Reichsmark hatte, verdiente 1934 nur noch 2.000 Reichsmark. Ein Jahr später wurde ihm die Viehhandelskonzession entzogen, weil er angeblich keine reellen Geschäfte betrieb. Er war auf eigene Ersparnisse und auf Notstandsarbeiten der Stadt für 20 RM Wochenlohn angewiesen. Ähnlich ging es den übrigen Viehhändlern, obwohl viele noch ihre Handelsgeschäfte weiterführen durften. In Euskirchen verarmte der Viehhändler Josef Rothschild von der Gerberstraße schon früher, so daß er bereits am 15. November 1932 zahlungsunfähig war und alle Rechte an die Gewerbebank Euskirchen abtreten mußte. Vorher hatte er große Teile seines Grundbesitzes verkaufen müssen. Am 17. 7. 1934 forderte der Westdeutsche Beobachter: „Weg mit dem jüdischen Viehhandel!“ Kolvenbach hat für Münstereifel recherchiert, daß an Markttagen jüdische und „arische“ Händler auf dem Markt getrennte Plätze einzunehmen hatten, damit man die Juden besser beobachten konnte. Die SA beaufsichtigte neben der Polizei den Marktverkehr und nahm jede unbedeutende Kleinigkeit zum Anlaß, den Juden Schwierigkeiten zu bereiten. So geschah es 1935, daß ein SA-Mann den Viehhändler Carl Baruch aus Münstereifel wegen Tierquälerei anzeigte, weil der Jude angeblich eine frischgekalbte Kuh auf dem Markt nicht gemolken hatte. Ein Tierarzt und der aufsichtsführende Polizist bestritten dies.

Im Westdeutschen Beobachter wurde trotzdem einige Tage später über die mangelnde Aufsicht auf dem Markt durch die Polizei geklagt. Ein Parteimitglied schrieb dazu: ... „Es ist immerhin anzunehmen, daß das Ansehen der Polizei sich mehr stärkt, wenn sie sich im Kampf gegen die Juden betätigt und eine öffentliches Ärgernis vom Markt beseitigt hätte. Die Dreistigkeit, die Juden sich auf dem hiesigen Markt erlauben, geht schon lange über das Maß hinaus, das letzthin einem Juden, der doch nur das Gastrecht genießt, erlaubt ist.“ 17) Ab September 1934 nahmen die Nationalsozialisten sich der Metzger an, indem jene - wo auch immer - verunglimpft wurden. Da vernahm der Euskirchener Zeitungsleser am 15. 3. 1935, daß in Gymnich ein Ziegenmetzger wäre, bei dem man im Eisschrank Fleisch gefunden hätte, das ganz von Maden und Würmern durchsetzt gewesen sei. Auch der „Fischjude Ignatz Schneider“ aus der Klosterstraße in Euskirchen wurde am 22. 3. 1935 diffamiert. Angeblich hätte er einen auswärtigen SA-Führer mit „Heil Hitler“ begrüßt und ihm beim Verkauf der Fische nicht mitgeteilt, daß er Jude sei. Erst Euskirchener Hitlerjungen mußten den Feinschmecker auf die schlechte jüdische Qualität hinweisen. Am 8. November 1934, am gleichen Tage, als die Lokalredaktion des Westdeutschen Beobachters den Lesern mitteilte, daß Adolf Hitler Ehrenbürger der Stadt Zülpich geworden sei, brillierte die Schlagzeile: „Schließt die Judenkneipe“! Ein eifriger Redakteur kritisierte die Zustände in der Wirtschaft „Zur Stadtmühle“, Mühlbachstraße (früher Abraham Meyer), da „dessen berüchtigte jüdische Wirtschaftsführung anscheinend noch heute fortgesetzt würde“. Da heißt es weiter: „... Daß es noch deutsche Mädchen gibt, die wir übrigens nicht mehr als Deutsche anerkennen, welche dieses Lokal als Treffpunkt mit ihren Judenfreunden benutzen, ist ebenfalls bezeichnend ... Deutsche Volksgenossen, die in Euskirchen nicht so bekannt sind, daß sie wissen, wer in diesem Lokal verkehrt, wurden, als sie während der Kirmes ein deutsches Mädchen zur Rede stellten, das mit einem Juden zusammen an einem Tische saß, von dem anwesenden Pöbel zusammengeschlagen.“ 16)

Für viele dürfte eine systematische Aufstellung antisemitischer Artikel in unserer Euskirchener „Nazipresse“ lesenswert sein, zumal damals Namen stets vollständig aufgeführt wurden. Einige Überschriften aus den Jahren 1934 - 1936 sprechen bereits für sich: „Familienbad für Juden verboten! - 'Jaukob' Wolf, ein typischer Vertreter jüdischen Geschäftsgebarens, Wechselfälscher und Betrüger - Die Juden Levano als Rasseschänder - Jude Liffmann macht wieder von sich reden - Ehebrecherische Absichten des Juden Rolef aus Cuchenheim - Unverschämtheit, die Juden Weinberg und Simon - Ein jüdischer Vampyr aus Erp - Vorsicht vor Möbeljud Horn - Um den Judaslohn von einer Mark zum Volksverräter geworden - Münstereifeler Juden begaunern einen deutschen Bauern - Sibilla Seligmann, die Sitzengebliebene - Jüdische Tierquäler - Meidet Juden! - Der Jude und die Heiligenfiguren - Jud Lion und sein Dienstmädchen - Der Sittlichkeitsverbrecher Kaufmann - Nach jüdischer Auffassung sind alle Nichtjuden 'Schweine' ...“

Schon damals meinte man, daß an jeder Geschichte etwas Wahres sein müsse...

 

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Die beiden Bilder zeigen den Synagogenbrand am 10. November 1938 in Euskirchen.
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Solche Artikel, die sich mit der jüdischen Bevölkerung von Euskirchen und Münstereifel befaßten, trugen den Grundton des ganz gewöhnlichen antijüdischen Volksempfindens. Natürlich wurden sie vom „Stürmer“ dabei noch übertroffen. Aber eins hatten beide Zeitungen gemein: eine voyeurhafte Leserschaft.

Die systematische antijüdische Denunziation frei Haus, die heimatspezifische „Tratsch - Haltung“. („Wußten Sie schon, daß ...“), die gerade auf dem Land und auch in den Voreifelstädtchen eher als in der Großstadt vorkam, und die heute so berüchtigte „Boulevard-Blättchen-Stimmung“ machten u. a. die Bevölkerung reif für das, was spätestens mit der „Reichskristallnacht“ Wirklichkeit wurde.

Am liebsten las man über wirtschaftliche Unregelmäßigkeiten und sittliches Vergehen unserer Mitbürger. Am 1. 2. 1935 wurde im Westdeutschen Beobachter, Teil Euskirchen, ein „Exklusivbericht“ vom Kölner Absteigequartier eines Juden aus Kommern geliefert, was um so interessanter war, als man am 5. 2. 1935 Details von seinem Absteigequartier in Olef zu lesen bekam. Moralisch „erschüttert“ war die Euskirchener und Münstereifeler Leserschaft, als am 18. 4. 1935 dem bekannten Juden L. K. ein Sittlichkeitsverbrechen an einem 13jährigen Mädchen „nachgewiesen“ wurde.

Die Reichskristallnacht im Kreis Euskirchen

In Euskirchen wurde 1935 eine „Prangertafel“ angebracht (Wilhelmstraße), auf der Käufer in jüdischen Geschäften mit Kreide vermerkt wurden; Nationalsozialisten warfen Zettel in die Briefkästen mit dem Inhalt: „Wir warnen Sie! - Sie haben wieder beim Juden gekauft!“ Eine weitere Steigerung bildeten Fotos, die den Käufer publizierten und ihn als Volksverräter darstellten. Wen will es da wundern, wenn die Kundschaft ausblieb? Am 15. 4. 1935 wurde der Stadtratsbeschluß mitgeteilt, nach dem keine neue Juden mehr nach Euskirchen zuziehen dürften, da „im weiteren Verlauf unseres Kampfes gegen Juda mit einer baldigen oder späteren Erwerbslosigkeit der Juden zu rechnen ist. Die Neuhinzugezogenen würden dann der Wohlfahrt zur Last fallen, was durch die neue Verordnung vermieden wird!“

Warnend leuchtete von der Eisenbahnbrücke an Euskirchens Münstereifeler Straße das Transparent: „Die Juden sind unser Unglück“.

Verstärkte Abwanderung

Seit der „Machtübernahme“ verstärkte sich die Abwanderung der jüdischen Mitbürger. 1937 lebten noch 41 Juden in Münstereifel. Als die Gesetze gegen die Juden in den Jahren 1938 noch stärkere Maßnahmen vorschrieben, wohnten nur noch 37 in der Stadt. Im Laufe der Zeit verließen etwa 15 Mitglieder der Familien Adolf und Hugo Wolf, Andreas Kaufmann, Andreas Lucas und Carl Baruch die Stadt und ließen sich in den USA, England, Frankreich und den Niederlanden nieder.

 

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Synagogenbrand in Euskirchen: Trotz Verbot löscht die Feuerwehr am Hauptportal.
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Vorderansicht des Hauses Simon Wolff in Bad Münstereifel neben der ehemaligen Synagoge.
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Auch in Euskirchen verstärkte sich nach Hitlers „Machtübernahme“ die Abwanderung der Juden. 1933 bis 1935 betrug ihre zahl noch 51, doch nur einer wollte emigrieren. 1936 bis Oktober 1938 meldeten sich weitere 59 ab, aber nur 11 von ihnen zwecks Emigration. Die Mehrzahl verzog nach Köln, und mancher dachte an baldige Rückkehr. Etwa 25 % von ihnen waren jünger als 30 Jahre; von denen, wie heute bekannt ist, der überwiegende Teil sich tatsächlich in Sicherheit gebracht hat.

Das Attentat, das der 17jährige deutsche Jude Herschel Grünspan als Racheakt für das Schicksal seiner ebenfalls nach Polen abgeschobenen Eltern am 7. 11. 1938 in Paris auf den Gesandschaftsrat vom Rath verübte, war Anlaß für die „Reichskristallnacht“.

Am frühen Nachmittag des 10. November 1938 fuhr ein Geländewagen vor der Euskirchener Synagoge in der Annaturmstraße vor. Drei auswärtige Nationalsozialisten, die mit „Westwall-Arbeitern“ auf dem Gelände des Tivoli an der Kölner Straße einquartiert waren, betraten - in Zivil - den Nebeneingang des markanten Gebäudes und schütteten Benzin, das sie in Kanistern mitgebracht hatten, auf zusammengetragenes brennbares Material. Der damalige Westschüler D. Konnte beobachten, daß sich das Feuer schneller vergrößerte als man geplant hatte, so daß die Feuerwehr erst einmal zwei Männer von der Synagogenkuppel herunterholen mußte, ehe mit der Sicherung der Nachbarhäuser begonnen werden konnte.

So wurde der Davidstern nicht - wie vorgesehen - abgesägt. Einrichtungsgegenstände und Thorarollen warf man auf die Kapellenstraße, wo - besonders die um 4 Uhr aus der Westschule heimkommenden Westschüler - die gaffende Bevölkerung Souvenirs zu erhaschen bemüht war. Ein Lieferwagen auf dem Annaturmplatz brannte lichterloh, wie auch später das in Brand gesteckte Möbelhaus Horn auf der Kommerner Straße. Hier, bei den Zerstörungen der jüdischen Geschäfte im Stadtzentrum und auch bei den Plünderungen, taten sich auch Euskirchener besonders hervor. An anderer Stelle wird ausführlicher auf das Geschehen in der „Reichskristallnacht“ eingehen zu sein. 19)

Es muß jedoch auch für Euskirchen festgehalten werden, daß - aufgrund eines Funkspruches der Stapo Köln - am 10. November 1938 um 11.55 Uhr das Landratsamt aufgefordert wurde, nichts gegen eventuelle Täter bei zu erwartenden Ausschreitungen zu veranlassen. Ein um 18.35 Uhr eingegangener Funkspruch gab für Euskirchen detaillierte Richtlinien durch. Bald konnte die Polizei-Verwaltung Kuchenheim das Ergebnis einer Untersuchung sämtlicher jüdischer Wohnungen präsentieren. Waffenfunde und Schäden waren genau aufgeführt.

Eidesstattliche Erklärung

Eine besondere präzise Darstellung der „Reichskristallnacht“ in Münstereifel liegt dem Verfasser anhand einer eidesstattlichen Erklärung der Jüdin Frida Kaufmann vom 20. Dezember 1948 vor, die bei den Prozessen vor dem Schwurgericht Bonn unter Aktenzeichen 7 K. S. 2/49 eine besondere Rolle spielte. Aus dieser geht deutlich hervor, mit welcher Brutalität die Nationalsozialisten an zwei Tagen in Münstereifel gehaust hatten. Die Analyse der sehr gewissenhaft geführten Täter-Liste ergibt, daß nicht nur die anonyme Masse, sondern auch zwei stadtbekannte Akademiker ihren nationalsozialistischen Beitrag leisten wollten.

Ergänzend hierzu sei vermerkt, daß auch die Münstereifeler Geschäftshäuser von Hugo Wolff, Carl und Oskar Nathan sowie die Wohnungen von Andreas Kaufmann und Adolf Wolff Ziele der Zerstörungswut waren. Fensterscheiben und Möbel wurden mutwillig zerstört, Kleidungsstücke und Hausrat auf die Straße geworfen. Da man von Andreas Kaufmann, der am Entenmarkt nahe der Erft wohnte, Widerstand erwartete, nahm man ihn sofort fest und inhaftierte ihn in Brauweiler, wo er sehr gequält wurde. Tuchballen, Kleider und Schuhe aus den Geschäften von Carl und Oskar Nathan bedeckten die Orchheimer Straße. In den Geschäften wurden viele Einrichtungsgegenstände zerschlagen. Den Personenwagen von Hugo Wolff schob man aus der Stadt und verbrannte ihn. Die Synagoge in der Orchheimer Straße wurde geschändet. Zur Brandstiftung kam es nicht, weil man eine Gefahr für die ganze Stadt befürchtete. Der seit 1823 in Quecken bestehende jüdische Friedhof wurde verwüstet; Grabsteine stieß man um oder zerstörte sie.

Alle jüdischen Gotteshäuser im Euskirchener Land wurden am 10. November 1938 nachmittags und abends zerstört oder in Brand gesteckt. Betroffen waren Euskirchen, Flamersheim, Kuchenheim, Lechenich, Gymnich, Weilerswist, Zülpich, Kommern und auch Münstereifel im Euskirchener Stadtarchiv befindet sich ein kleines Fotoalbum, dessen Bilder den Brand der Euskirchener Synagoge dokumentieren: das Werk eines unbekannten Fotografen, der der Stadt nach dem 2. Weltkrieg den Film zukommen ließ.

Die Bevölkerung von Münstereifel wurde durch ein Flugblatt über die „Gründe“ und „Maßnahmen“ anläßlich der „Reichskristallnacht“ aufgeklärt.

 

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„Reichskristallnacht“ in Euskirchen: Das Möbelhaus Horn auf der Kommerner Straße brennt.
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Dieses Flugblatt war von den Ortsgruppen der NSDAP in Münstereifel Stadt und –Land in aller Eile gedruckt und verteilt worden. Die jeweiligen Ortsgruppenleiter wiesen auf den „Meuchelmord an dem Gesandtschaftsrat vom Rath“ hin und ergänzten für die Voreifel: „... Der Jude Nathan aus Münstereifel belügt die Bauern, damit sie bei ihm kaufen.

Der Jude Felix Wolff und der Jude Hugo Wolff aus Münstereifel waren beide im Besitz von Feuerwaffen, doch nur für den Zweck, um auf Deutsche zu schießen! Deutsche Männer und Frauen! - Die Juden sind unsere unversöhnlichsten Feinde! - Kampf den Juden - Kampf den Judenknechten! Heil Hitler!“

Die Reaktion des Westdeutschen Beobachters, Teil Euskirchen, ist heute nicht mehr ablesbar, weil die Ausgabe dieses Monats verschwunden ist. Das Euskirchener Volksblatt, konservativ und christlich orientiert - deswegen auch besonders von der heimischen Konkurrenz kritisiert 20) - handel die Pogromnacht kommentarlos in wenigen Zeilen am 11. November 1938 ab:

„Kundgebungen gegen die Juden in Euskirchen

In der Bevölkerung machte sich nach der Mitteilung vom Ableben des Ersten Gesandtschaftsrates vom Rath eine steigende Erregung bemerkbar. Um die Mittagsstunde sammelten sich vor den jüdischen Geschäften und vor Wohnungen der Juden erregte Volksgenossen. Mehrfach kam es zu Demonstrationen gegen Juden, Geschäfte wurden gestürmt, Schaufenster und Auslagen zerstört. Bei der Feuerlöschpolizei liefen bald Meldungen über Brände ein. Die Synagoge in der Annaturmstraße und ein jüdisches Geschäftshaus auf der Kommerner Straße brannten bis auf die Umfassungsmauern aus.“

Oberpfarrer Carl von Lutzenberger aus Zülpich berichtete 1938 in seinen Tagesbuchaufzeichnungen, wie er mit Entsetzen erlebte, daß das Synagogenmobiliar aus der Normanengasse auf dem Zülpicher Martinsfeuer landete. In einem Brief an die jüdische Gemeinde sprach er vom „aufrichtigen Mitgefühl anläßlich des Schweren und bitteren“. 21) Nach den Brandstiftungen in den Städten folgten in der Nacht Brände und Zerstörung auf dem Lande. Das nichtjüdische Haus Rosenbaum in Flamersheim, wo die Rabbiner zu übernachten pflegten, ging in Flammen auf. In Großvernich standen sogar Einheimische an der Spitze der Aufwiegler.

Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Tage später erhielten die Familien von NS-Stellen den Befehl, die Schäden gefälligst auf eigene Kosten auszubessern. Viele Anzeigen wurden vom Gericht wegen „mangels an Beweisen“ fallengelassen.

War die jüdische Familie bei dem Chaos oder auch später geflogen, sequestierte das Kreis-Finanzamt die Habe und ließ sie unterstellen, so bei Meyer an der Kommerner Straße, in der ehemaligen Fabrik an der Euskirchener Spiegelstraße und in der Concordia. Vieles wurde verkauft oder versteigert. So ärgerte sich 1942 - nach dem Abtransport der Juden aus Großbüllesheim - die Bevölkerung, daß der Ortsgruppenleiter der erste war, der den neuen Herd der deportierten Familie Meyer für seine Familie ergattern konnte, denn jeder wollte beim Ausverkauf ein „Schnäppchen“ machen. Heute sind nur noch wenige Unterlagen des Finanzamtes in den Archiven einsehbar.

Deportationen

Bald setzten neue Verfolgungsmaßnahmen ein, über die die Euskirchener und Münstereifeler Bevölkerung wenig erfuhr. Auch die Lokalpresse hatte ihre Attacken und Denunziationen fast völlig eingestellt. Seit dem 28. November 1938 wurde die jüdische Bevölkerung des Kreises in sogenannten „Judenhäuser“ zusammengefaßt (z. B. Baumstraße, Hochstraße). Ihre Häuser und Wohnungen durften sie nicht mehr betreten; diese wurden „anderweitig“ verwendet. In einem Judenhaus in der Baumstraße, in unmittelbarer Nähe des Euskirchener Rathauses, mußten 40 Menschen auf engstem Raume dahinvegitieren. Ab 9. Oktober 1939 durften die Euskirchener Juden nur noch bei bestimmten Geschäften und nur zu bestimmten Zeiten Lebensmittel kaufen.

Nach der Progromnacht 9./10. November 1938 hatte sich das zweite Drittel der jüdischen Bevölkerung abgemeldet. Wie es zu erklären ist, daß im Sommer 1942 noch das letzte Dritte, nämlich 75 jüdische Bürger, in der Kreisstadt lebte, erscheint nach allem unfaßbar, zumal man 1940 allen deutschen Juden die deutsche Staatsangehörigkeit entzog.

Erschütternd ist das für Euskirchen und Umgebung geltende Aktenmaterial, das Schriftsätze zur Deportation beinhaltet und doch noch in größerem Umfange vorhanden ist, als der Verfasser anfangs vermutete. Da liegen Schreiben bewährter Parteigenossen vor, die sich um ehemaligen jüdischen Besitz bemühen, oder Anordnungen vom 29. 5. 1941, nach denen zum Beispiel die Juden aus Kirchheim und Flamersheim nach Sinzenich und Zülpich umzusiedeln seien. Wie dies den Betroffenen mitgeteilt wurde, soll exemplarisch folgendes Schreiben dokumentieren: „... Auf Anordnung erfolgt Ihre Umsiedlung nach Sinzenich (Haus W.M.H.). Der Umzug hat sofort zu erfolgen und muß bis spätestens 6. Juni 1941 restlos durchgeführt sein. Außer der polizeilichen Abmeldung haben Sie schriftlich nach hier mitzuteilen, wann und wohin ihr Umzug erfolgte. Die bisher innegehabte Wohnung ist gründlich zu reinigen und bei Wegzug zu verschließen. Die Schlüssel sind zusammenzubinden und mit entsprechender Bezeichnung zu versehen und an das hiesige Amt, Zimmer 1, abzugeben. - Der Bürgermeister von Kuchenheim als Polizeibehörde.“

Im Sommer 1942 wurden aus dem Kreisgebiet die letzten - etwa 350 - jüdischen Mitbürger meist in den Tod deportiert. Vielen Euskirchenern ist dieser Abtransport durch die Neustraße noch in schauriger Erinnerung, bis dann die verängstigten Familien auf einem Nebengleis des Euskirchener Bahnhofs „verladen“ wurden.

Vorher hatte man bereits im Sommer 1941 die Juden von Münstereifel im Morgengrauen abgeholt, und, weil ihr weiterer Aufenthalt in der Kurstadt „unerwünscht“ sei, in ein Lager bei Kommern gebracht. Dort wurden sie vorläufig mit anderen Familien aus der Eifel, Düren und Euskirchen auf engstem Raum zusammengepfercht. Auch ihr Schicksal vollendete sich im Sommer 1942 in den Konzentrationslagern des Ostens.

Und heute?

Die Skizzierung eines Antisemitismus kann an dieser Stelle nicht vollständig sein. So ist die Problematik der sogenannten „getauften Juden“, ja selbst die der „Halbjuden“ in keinerlei Weise erfaßt.

Schon einleitend wies der Verfasser darauf hin, daß die Ausschreitungen eines jeden Massenwahns stets die Folge von Einschüchterung und Entrechtung sind, die eine Minderheit von Unmenschen befähigt, ihren Willen einer passiven Mehrheit aufzuzwingen. In diesem Sinne sollte man das bissige Wort des Wiener Satirikers Karl Kraus interpretieren: „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten“.

Im Rahmen der „Wiedergutmachung“ nach dem 2. Weltkrieg konnten finanzielle Transaktionen einen geringen Prozentsatz wirtschaftlicher Schuld lindern. Während Münstereifel - unterstützt von dem ehemaligen Landtagspräsidenten Dr. Dr. Pünder - schon vor 20 Jahren bemüht war, eine moralische Schuld abzutragen und den jüdischen Friedhof der Kurstadt zum „schönsten Waldfriedhof der Bundesrepublik“ (Kommentar einer amerikanischen Kommission) machte sowie deutsch-jüdische Kontakte förderte, feierte die benachbarte Stadt Mechernich im Mai 1979 eine viel beachtete „Woche der Brüderlichkeit“.

Die Kreisstadt Euskirchen hatte im Haushaltsplan 1980 einen Betrag von 12.000 DM für ein Mahnmal vorgesehen.

Anmerkungen
  1. GISSINGER, Karl: Die Juden in Euskirchen (Erfa, Eusk. Zeitung 1900, S. 59 - 67

  2. SIMONS, Peter: Die Juden, in: „Aus Euskirchens alten Tagen“ (Unsere Heimat, Eusk. Volksblatt 1926, S. 9 ff)

  3. SCHULTE, Klaus H.S. Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein seit dem 17. Jahrhundert, Düsseldorf 1972 KOLVENBACH, Willi: Geschichte der Juden in Münstereifel (Examensarbeit 1962)

  4. ERLER, Georg: Die Juden in: Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 1, S. 607

  5. Euskirchener Zeitung v. 2. 9. 1893

  6. Euskirchener Zeitung v. 13. 12. 1893

  7. Vergl. Auch SCHULTE, a. a. O. Seiten 51-54

  8. Vergl. Hierzu die beiden Berichte im Kölner Stadt-Anzeiger, Teil Euskirchen, vom 30. 11. und 1./2. Dez. 1979 von H.-D. Arntz

  9. in: Westdeutscher Beobachter, Teil Euskirchen, v. 7. 6. und 29. 6. 1935

  10. Euskirchener Volksblatt v. 22. 10. 1932

  11. Euskirchener Zeitung v. 22. 3. 1933

  12. Euskirchener Zeitung v. 29. 3. 1933

  13. Euskirchener Zeitung v. 4. 4. 1933

  14. Heirat am 17. 8. 1939: Glaser Friedrich Julius Nathan, geb. am 12. 2. 1889 und Hausgehilfin Charlotte Lesser, geb. 28. 9. 1895

  15. Westdeutscher Beobachter, Teil Euskirchen, v. 27. 1. 1934

  16. ebenda, 9. 2. 1934

  17. Akte der Stadtverwaltung Bad Münstereifel Nr. 5006

  18. Westdeutscher Beobachter v. 8. 11. 1934

  19. H.-Dieter Arntz: „Juden in Euskirchen“ (Buch in Vorbereitung) Vergl. aber auch meine Dokumentation: „Die Judenverfolgung im Kreis Euskirchen“, Artikelserie in der Rundschau v. 9.-16. Nov. 1978

  20. Westdeutscher Beobachter, Teil Euskirchen, v. 29. 6. 1935

  21. Zitiert nach Rundschau v. 8. November 1978 („Probstmuseum zeigt Solidaritätsschreiben“)

Weiterhin:

Akten von: Stadt- und Kreisarchiv Euskirchen, Korrespondenzen der Synagogengemeinden, Hauptstaatsarchive Düsseldorf und Koblenz, Stadtarchiv Bad Münstereifel,
Zeitungsarchiv ARNTZ, Euskirchen-Rheder
Stadtarchive Zülpich und Mechernich
Kreis Euskirchen - Jahrbuch 1981

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