JUDAICA – Juden in der Voreifel  (Besprechung und Rezension des Buches)

von Manfred van Rey
09.03.2008

Hans-Dieter ARNTZ,  JUDAICA - Juden  in  der Voreifel, Kümpel-Verlag Euskirchen 1983. 539 S. mit zahlr. Abb. 59,80 DM.

In: ANNALEN DES HISTORISCHEN VEREINS FÜR DEN NIEDERRHEIN
1985 LUDWIG RÖHRSCHEID VERLAG • BONN

HEFT 188, S. 318-321

Der Autor, Gymnasiallehrer in Euskirchen, hat in jahrelanger mühevoller und kostenträchtiger Arbeit die historischen Spuren, auch die kleinsten und unschein­barsten, der jüdischen Bevölkerung der Voreifel gesucht, festgehalten und in vor­liegendem Buch veröffentlicht. Dass er gerade auch das darzustellen versucht, was sich in vielen Briefen, Interviews, Tagebuchauszügen und Zeitungsartikeln und weniger bzw. weniger plastisch in den Akten der einschlägigen Archive als indivi­duelle Lebenswirklichkeit jüdischer Bewohner der Voreifel und besonders Euskir­chens wiederfindet, von Arntz etwas unglücklich als „Kleinkariertes" bezeichnet, macht sein umfangreiches Buch überaus lebendig und spannend.

Dies und sein zeitlich gut platziertes Erscheinen schon im Frühjahr des 50. Jahrestags der natio­nalsozialistischen „Machtergreifung" ließ die Medien aufmerksam werden, so dass der Verfasser, zudem unzweifelhaft journalistisch begabt, inzwischen zu zahlrei­chen Interviews gebeten wurde. Das kann seinem moralisch-politischen und päda­gogischen Anliegen, nämlich „Besinnung und Warnung vor Diskriminierung von Minderheiten" (so die Widmung des Buches), nur förderlich sein. Dass Arntz und sein Buch den Anstoß dafür gaben, die ehemaligen jüdischen Bürger von Flamersheim 1984 in ihre alte Heimat einzuladen, bezeugt eindringlich die Wirkung seines starken Engagements. Eine reiche Frucht, wie der Rezensent, seit Jahren die von der Stadt Bonn eingeladenen ehemaligen jüdischen Bürger begleitend, urteilen möchte.

judaicaDas Buch von Hans-Dieter Arntz befasst sich zu zwei Dritteln mit dem Schicksal der jüdischen Mit­bürger während der NS-Zeit. Gerade hier erweisen sich die Vorzüge einer auf persönlichen Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Interviews jüdischer und besonders auch christlicher Bürger, von Zeitzeugen also, beruhenden Oral History deutlich vor einer stärker auf Akten basierenden Geschichtsschreibung jüngster Vergangenheit, wie sie der Rezensent für die Geschichte der Juden in Königswinter vor kurzem vorgelegt hat (1). Dass hierbei regionale und lokale Über-lieferungsmöglichkeiten eine wesentliche Rolle spielen, darf jedoch nicht überse­hen werden. So konnte Arntz allein von Juni 1934 bis November 1935, also für einen Zeitraum von nur anderthalb Jahren, 87 judenfeindliche Artikel, die fast ausschließlich die Voreifel betreffen, im parteioffiziellen „Westdeutschen Beob­achter" namhaft machen, während für die ganze NS-Zeit nicht ein Dutzend für Königswinter vorliegen.Vermochte Arntz mit 80 ehemaligen jüdischen Mitbür­gern vor allem aus Euskirchen und Flamersheim korrespondieren, so der Rezensent mit nur einem Geschwisterpaar jüdischen Glaubens und zwei christlich getauften Frauen. Zudem konnte sich Arntz auf eine vergleichsweise gute Akten­überlieferung im Kreis- und Stadtarchiv Euskirchen stützen, wohingegen er sich für Bad Münstereifel einer 1962 verfassten Examensarbeit von Willibald Kolvenbach bediente. Kritisch anzumerken ist, dass Arntz zwar ein Verzeichnis der Literatur und gedruckten Quellen bietet, der Leser sich aber das ungedruckte Verwaltungs- und Archivmaterial aus den fast 900 Anmerkungen heraussuchen muss.

Dabei erweist sich, dass der Verfasser die Archivalien der Regierung Köln, des Oberpräsidiums Köln, später Koblenz für das 19. und frühe 20. Jahrhundert sowie die Bestände Kurköln und Jülich-Berg für die Frühneuzeit nicht selbst, sondern nur nach der Literatur (vor allem KOLVENBACH und H. S. KLAUS SCHULTE, Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein seit dem 17. Jahrhundert, 1972 [Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 12]) benutzt hat. Gleichwohl ist seine Darstellung auch hier für das 19. und 20. Jahrhundert dank intensiver Zeitungsauswertung dicht und farbig.

Vergleicht man sein Buch mit dem weitgehend von HEINRICH LlNN verfassten, ebenfalls einen größeren rheinischen Raum abdeckenden Werk „Juden an Rhein und Sieg" (im Herbst des gleichen Jahres erschienen, besprochen von H.-D. ARNTZ in dieser Zeitschrift 187, 1984, S. 328-330), so zeigt sich der Unterschied klar. Arntz schreibt sehr flüssig, mitunter im journalistischen Stil, dank seiner stark herangezogenen Methode der Oral History lebendig und eindringlich. Demgegenüber wirkt Linns Werk, an dem auch der Rezensent bescheidenen Anteil hatte, kühl, manchmal spröde, darf aber wegen der konzisen, äußerst genauen und systematischen Darstellung etwa der Judengesetzgebung Kurkölns und Jülich-Bergs, der napoleonischen bzw. großherzoglich-bergischen und preu­ßisch-deutschen Rechtsverhältnisse einschließlich der NS-Zeit geradezu als Handbuch jüdischer Geschichte des Rheinlands, teilweise weit über das zwanzig Jahre zuvor erschienene große Werk der Monumenta Judaica hinausgehend, betrachtet werden.

Arntz verzichtet in seinem Werk bewusst auf eine Kapiteleinteilung nach histori­schen Epochen, selbst bezüglich der NS-Zeit, und breitet in 37 aneinandergereihten, z. T. wie einzelne Essays wirkenden Kapiteln, die Geschichte der jüdischen Bevölkerung der Voreifel aus, im besonderen von Euskirchen, Bad Münstereifel und dem zwischen beiden Städten liegenden, wegen seines ungewöhnlich hohen Anteils jüdischer Bürger (1911 waren es 13,1%) an der Gesamtbevölkerung im Volksmund so bezeichneten „Judendorf" Flamersheim. Bei dieser Vorgehensweise macht sich allerdings das Fehlen eines Orts- und Personenregisters besonders schmerzlich bemerkbar.

Schon nach der Mitte des 13. Jahrhunderts sind Juden in Zülpich und Münstereifel bezeugt, zur Zeit der Pogrome hundert Jahre später auch kleine jüdische Gemeinden in Lechenich und Euskirchen im Herzogtum Jülich. Im 19. Jahrhun­dert entwickelte sich die Voreifel als ein Zentrum der linksrheinischen Juden. Seit der Jahrhundertmitte wanderten viele aus der Eifel in die beiden Städte Euskir­chen und Münstereifel zu. 1871 lebten in Münstereifel 131 Menschen jüdischen Glaubens, zwei Generationen später, zu Beginn des „Dritten Reichs" waren es nur noch 65, während in Euskirchen die Höchstzahl von 255 erst 1905 erreicht war, es dafür 1933 noch 231 waren. Die zwischen den beiden Kleinstädten und Syn­agogengemeinden liegenden Dörfer Flamersheim und Kirchheim bildeten schon in vornapoleonischer Zeit größere Judengemeinden, in der Mitte des 19. Jahrhun­derts zählten sie zusammen knapp 100, 1900 sogar 120, 1933 noch 77 jüdische Bürger mit einer eigenen Synagogengemeinde. Von größerer Bedeutung war auch die jüdische Gemeinde Kommern mit 94 Mitgliedern 1911, 50 im Jahre 1932.

Eine kleine jüdische Schule existierte schon im 18. Jahrhundert in Euskirchen, dessen jüdische Gemeinde 1886 eine prächtige große Synagoge im maurischen Stil einweihen konnte, während die Flamersheimer, neun Jahre zuvor errichtet, sehr viel bescheidener war. Arntz untersucht die wirtschaftliche und soziale Lage der jüdischen Bürger vor dem Hintergrund der christlichen Bevölkerung. Dabei zeigt sich, dass Mitte des vorigen Jahrhunderts zwar die Hälfte der jüdischen Haus­haltsvorstände Euskirchens Metzger und Viehhändler waren, knapp die andere Hälfte aber in der für diese Stadt schon charakteristischen Tuchindustrie beschäftigt war (S. 55), während im benachbarten Bad Münstereifel ausschließlich Metz­ger, Viehhändler und Geschäftsleute begegneten.

Insgesamt unterscheidet sich die Geschichte der jüdischen Gemeinden der Voreifel kaum von den anderen ländlich-kleinstädtischen im Rheinland. Konnte sich Arntz für die Darstellung der früheren Epochen auf zwei größere, Euskir­chen betreffende Arbeiten von KARL GISSINGER (1900) und Peter SIMONS (1926), die noch zahlreiche im Zweiten Weltkrieg verloren gegangene Akten benutzen konnten, stützen, so beruht seine Geschichte der jüdischen Gemeinden der Voreifel in der späten Weimarer Republik und der NS-Zeit ganz auf eigenen Forschungen und Recherchen.

Waren seine bisherigen Kapitel z. T. recht lose, ohne festen zeitlichen Zusammenhang aneinandergereiht, so zeichnet er die leidvolle Geschichte von nun an strenger chronologisch nach, wie das Linn'sche Werk über das Ende des „Dritten Reiches" hinausgehend und mit dem Epilog „Ein Mahnmal" endend. Breit und ausführlich verfolgt er die Spuren der jüdischen Bürger der Voreifel von den ersten Diskriminierungen an bis zu ihrer Vernich­tung in Auschwitz, Minsk, Theresienstadt, im Osten, sucht sich dem Schicksal der rechtzeitig Ausgewanderten, der die Vernichtungslager Überlebenden, derjenigen zu nähern, die aus Angst vor noch Furchtbarerem ihrem Leben ein Ende setzten, möglichst einem jeden einzelnen sich widmend.

Wie eingangs gesagt, verdient er für diesen Teil große Anerkennung. Hinweisen möchte ich hier besonders auf sein Kapitel „Jüdisch-religiöses Leben im Ghetto von Riga - nach den Erinnerungen von Karl Schneider" aus Euskirchen (S. 351-369) und auf sein Porträt von „Jupp Weiss aus Flamersheim, der(m) Judenälteste(n) von Bergen-Belsen" (S. 434-446).

Nicht nur Weiss überlebte das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sondern auch Joseph Walk, 1932 Vorbeter und Prediger in Münstereifel, heute Direktor des weltweit für die Geschichte des Judentums berühmten Leo Baeck-Instituts in Jerusalem, der Arntz' Buch mit dem wohlverdienten Geleitwort beehrte, hoffend, dass diese „Arbeit ihre doppelte Aufgabe erfüllt: die Opfer vor dem Vergessen zu bewahren, den noch Lebenden und Nachgeborenen als War­nung zu dienen".

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1 Leben und Sterben unserer jüdischen Mitbürger in Königswinter. Ein Buch des Gedenkens. Königswinter 1985. (Königswinter in Geschichte und Gegenwart.

 

 

 

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