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Von seinen Mithäftlingen verehrt
Der jüdische Rheinländer Josef Weiss (1893–1976) hatte im   Konzentrationslager Bergen-Belsen als sogenannter Judenältester die   Registratur des Gesamtlagers und der »inneren Verwaltung« zu leiten.   Daher zählte er nach dem Zweiten Weltkrieg zu den wenigen Augenzeugen,   die kompetent über das Geschehen und die Vernichtungsmaßnahmen der   Nationalsozialisten zu berichten wussten. Zudem gilt er den Überlebenden   noch heute als moralische Instanz und verdienstvolle Persönlichkeit,   die vielen Menschen im KZ Bergen-Belsen das Leben rettete. Ein   Mithäftling charakterisierte ihn nach seinem Tod im Jahre 1976 so: »Was   er auch bestimmte, basierte auf Ehrlichkeit, Anständigkeit und   Rechtschaffenheit.«
          
          Der in der Voreifel geborene Josef »Jupp«   Weiss zählt zu den »unbesungenen Helden«, die bisher keinen Platz in der   Historie fanden. Dies ist insofern von großer Bedeutung, da ein   Judenältester eigentlich ein »Funktionshäftling« war, der Befehle der SS   auszuführen hatte. Die Reputation dieser »Judenältesten« ist bis heute   durch Vorwürfe der Korruption und Kollaboration schwer belastet.   Andererseits betätigte sich Josef Weiss als Helfer für unzählige, für   die Vernichtung vorgesehene jüdische Häftlinge.
Flucht
Josef Weiss war das zweitjüngste von neun Kindern. Seine Vorfahren   stammten aus den Niederlanden (Limburg und Noord-Brabant) und ließen   sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Nähe der Eifel nieder. Weiss   besuchte die Volksschule in Flamersheim – heute ein Stadtteil von   Euskirchen – und machte danach eine kaufmännische Lehre. Seine erste   Anstellung fand er im Kölner Kaufhaus Michel & Co., das den Brüdern   seiner Mutter gehörte.
          
          Im Ersten Weltkrieg zeichnete sich Josef   Weiss als Frontkämpfer aus, war Feldwebel und erhielt das Eiserne Kreuz   2. Klasse. Nach dem Krieg wurde er Personalchef und   Verwaltungsspezialist der Firma Michel. Daneben befasste er sich mit   deutsch-jüdischer Literatur und wurde überzeugter Zionist. 1922   heiratete er die Kölner Opernsängerin Erna Falk. 1933 flüchtete Weiss   vor den Nationalsozialisten ins niederländische Aerdenhout, wo er   Aktivitäten und Funktionen beim Niederländischen Zionisten-Bund in   Haarlem und Hilversum sowie bei einer Hilfsorganisation für deutsche   Emigranten und jüdische Flüchtlinge übernahm. Mehrfach wirkte Josef   Weiss (in Holland schrieb er sich Joep Weisz) als aktiver Fluchthelfer. 
          
    Ab   dem 29. Januar 1942 war er mit der Familie im »polizeilichen   Durchgangslager« Kamp Westerbork inhaftiert. Dort übernahm er freiwillig   die Betreuung von etwa 150 emigrierten Jugendlichen und richtete eine   Art Lagerschule ein. Als Organisator jüdischer Angelegenheiten konnte   Weiss bereits in Westerbork durch Fälschung von Listen und angebliche   Kontakte zum Vatikan Menschenleben retten.
Funktion
Eine Zeit lang wurde Josef Weiss zurückgestellt, dann jedoch im Januar   1944 als »wirtschaftlich wertvoller Jude« in das »Aufenthalts«-   beziehungsweise »Austauschlager« Bergen-Belsen überführt. Weiss war dort   zuerst zweiter Stellvertreter des griechischen Judenältesten Jacques   Albala, ab Dezember 1944 übernahm er dessen Funktion im Sternlager von   Bergen-Belsen. Gleichzeitig war Weiss verantwortlich für die interne   Lagerverwaltung.
          
          Das vorliegende Archivmaterial in den   Niederlanden, Deutschland und Israel weist ihn als integre   Persönlichkeit aus. Die australische Schriftstellerin Hetty E. Verolme,   Autorin des Buches Wir Kinder von Bergen-Belsen (2005), charakterisierte   »Jupp« Weiss als »Fels von Gibraltar«, da er sich für die Juden im   Sternlager engagiert einsetzte. »Er unternahm vieles, ohne jedoch dabei   waghalsig zu werden«, sagte Weiss’ Mithäftling und Freund, der   Niederländer Eli Dasberg. Der Kölner Historiker Eberhard Kolb bestätigt:   »Er hat sich um die Insassen des Sternlagers außerordentlich verdient   gemacht.« Berühmt wurde der Bericht von Josef Weiss über die   »Seder-Feier 1945 im Kinderhaus von Bergen-Belsen«, der inzwischen in   mehrere Sprachen übersetzt wurde.
          
          Mit dem als »Zug der   Verlorenen« bekannt gewordenen Häftlingstransport verließ Josef Weiss im   April 1945 zusammen mit seiner Frau Erna und etwa 2400 weiteren   Menschen Bergen-Belsen mit dem Ziel  Theresienstadt. Nach einer fast   zwei Wochen dauernden Irrfahrt durch noch unbesetzte Teile Deutschlands   hielt dieser Zug schließlich nahe der brandenburgischen Gemeinde   Tröbitz, wo er am 23. April 1945 von der Roten Armee befreit wurde.   Einer Typhus-Epidemie, die nach der Befreiung des Transports unter den   einstigen Insassen des Zuges in Tröbitz grassierte, fiel neben 300   weiteren Menschen auch Erna Weiss zum Opfer. 
Rolle
Erst bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes wurde in dem   hervorragenden Film Der Letzte der Ungerechten von Claude Lanzmann ein   Judenältester in der Person von Benjamin Murmelstein (Theresienstadt)   vorgestellt. Bei den Recherchen zu meinem Buch über Josef Weiss stand   ich jahrelang mit Wolf Murmelstein, dem Sohn des »letzten Judenältesten   von Theresienstadt«, in engem Kontakt und konnte daher wichtige   Informationen, die er mir gab, in meine Belsen-Dokumentation einfließen   lassen. Hierzu gehört der Hinweis auf einen geplanten Aufstand der   jüdischen Häftlinge in Theresienstadt.
          
          Lanzmann zeigt am Beispiel   Murmelsteins die ambivalente Rolle, die die Judenältesten im System der   Schoa spielten. Während man nach dem Zweiten Weltkrieg die wenigen   überlebenden Judenältesten meist als Kollaborateure betrachtete, wie es   etwa während des Eichmann-Prozesses in Israel deutlich wurde, lebte   Josef Weiss bis zu seinem Tod im Jahr 1976 als respektierter Zeitzeuge   in Jerusalem. Anlässlich seines 120. Geburtstages am 16. Mai 2013 ehrte   ihn die Bevölkerung von Flamersheim mit der Benennung einer Straße und   der Anbringung einer Gedenktafel an seinem Geburtshaus. 

          
          Der   Autor ist Verfasser des Buches »Der letzte Judenälteste von   Bergen-Belsen. Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung«.   Helios, Aachen 2012, 710 S., 38 €