Ein NS-Ordensburg-Junker als „Kulturschaffender“ im Osten (1942)

von Hans-Dieter Arntz
16.04.2014

Wer sich ernsthaft mit der Thematik der Judenverfolgung und des Holocaust befasst, wird sich wahrscheinlich nicht nur mit dem, was etymologisch als „Katastrophe“ oder „Unheil“ bezeichnet wird, beschäftigen. Der Völkermord an 5,6 bis 6,3 Millionen Juden als Folge des vom NS-Regime propagierten Antisemitismus, zielte auf die vollständige Vernichtung der europäischen Juden und wurde von 1941 bis 1945 systematisch, ab 1942 auch mit industriellen Methoden durchgeführt.

Der Erforschung dessen, was tatsächlich an Ungeheuerlichem geschah, stehen weiterhin dringende Fragen gegenüber:

Wie konnte es zum Holocaust kommen?

Wer waren die Menschen, die zur Shoa beitrugen und mitwirkten?

Dies sind die Gründe, weshalb auch ich seit mehr als 35 Jahren für diese Gesamtthematik arbeite – anfänglich mit regionalhistorischem Schwerpunkt, später in weit größerem Zusammenhang. Meine Bücher lassen erkennen, dass ich mich mit dem Judentum, aber auch mit dem Nationalsozialismus befasse. Insofern könnten sich zum Beispiel mein letztes Buch Der letzte Judenälteste von Bergen Belsen sowie meine Dokumentation über die NS-Ordensburg Vogelsang in der Eifel wechselseitig ergänzen. Hier das Schicksal der verfolgten und getöteten Opfer, dort die elitäre Ausbildung der künftigen NS-Funktionäre - (vgl. Zur Pädagogik der Ordensburgen) – und deren späterer Missbrauch von Macht.

VogelsangDie NS-Ordensburg Vogelsang war wohl eine der bedeutendsten Ausbildungsstätten für Parteifunktionäre der NSDAP. Das Standardwerk Ordensburg Vogelsang 1934-1945 Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich, das in bisher 6 großen Auflagen seit dem Jahre 1986 Verbreitung fand, konzentriert sich auf die Ausrichtung der künftigen „Führeranwärter“ bzw. „Ordensjunker“ und deren Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich. Weiterhin ist wohl diese Dokumentation immer noch das einzige Werk, das die Historie sowie auch die Methodik und Didaktik der NS-Ordensburgen im Dritten Reich in einer Gesamtdarstellung aufzeigt.

Nach längerer Zeit widme ich mich zurzeit wieder der Erforschung der NS-Ordensburgen und kann auf ein inzwischen großes Archiv zurückgreifen. Es war schon gelegentlich Grundlage diesbezüglicher Fernseh-Dokumentationen und basiert nicht nur auf vielen Nachlässen ehemaliger „Junker“, sondern auch auf Archivdokumenten, Fotos und Relikten entsprechender Gebäudeeinrichtungen. Aber auch zwei weitere große „Vogelsang“-Archive wurden bisher aus besonderen Gründen nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

 

Junker

 

Nachdem ich in längst vergessenen Archiven der ehemaligen DDR wichtige Details finden konnte, auf die ich schon vor Jahren hingewiesen habe, interessieren mich jetzt russische Unterlagen, die ich wegen fehlender Übersetzungsmöglichkeiten bisher vernachlässigt habe. Daher möchte ich ein Beispiel nennen, das mich zu einem weiteren „Vogelsang“-Junker führt, der – sehr wahrscheinlich (!!) – derjenige ist, um den es in einem russischen Artikel aus dem Jahre 1942 geht. Für den - noch nicht direkt nachgewiesenen - Fall, dass es sich tatsächlich um denselben „Junker Friedrich Neugebauer“ handelt, soll die Präsenz eines „Vogelsang“-Absolventen im Raum Minsk nachgewiesen werden, der als ehemaliger Pädagoge mit der ideologischen Leitung der „politischen und kulturellen Verwaltung des Reichskommissariat Ostland“ in Minsk beauftragt worden war. Vgl. Verwaltungsgliederung.

Wikipedia erklärt diese Institution:

Das Reichskommissariat Ostland entstand nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 im Baltikum und Teilen Weißrusslands während des Zweiten Weltkriegs. Die politische Organisation des Gebiets übernahm – neben einer Militärverwaltung – eine Zivilverwaltung, die unter der Leitung des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg stand.

Die politischen Hauptziele, die das Ministerium im Rahmen der nationalsozialistischen Ostpolitik verfolgte, waren die vollständige Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und die „Germanisierung“ von großen Bevölkerungsteilen – nicht zuletzt im Reichskommissariat Ostland sowie im Reichskommissariat Ukraine. Die Germanisierungspolitik wurde auf der Grundlage des Generalplans Ost, spezieller Erlässe und Richtlinien sowie später auf der Grundlage des Generalsiedlungsplans im Ostland durchgeführt.


In diesem Zusammenhang ist folgende Veröffentlichung in der September/Oktober-Ausgabe 1942 einer russischen Lehrerzeitung erwähnenswert. Sie erschien im Jahre 1942 in Wilna, der heutigen Hauptstadt von Litauen, und zwar in einem pädagogischen Journal der von den Deutschen reglementierten „Schulaufsicht“. In einem Artikel wird Friedrich Neugebauer als „Leiter der kulturellen und politischen Abteilung“ erwähnt. Hier handelt es sich sehr wahrscheinlich um diesen sehr engagierten „Junker“ von der Ordensburg Vogelsang.

Ich interessiere mich deswegen für informierende Hinweise der Leser meiner Homerpage, weil der russische Artikel den Eindruck erweckt, als ob in einer „sehr schlimmen Zeit“ tatsächlich ein führender Mitarbeiter des „Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete“, Stab Rosenberg, das Schulwesen des besetzten Gebietes kontrollierte.

Ursprünglich als Pädagoge tat sich der erwähnte Friedrich Neugebauer schon auf der in der Eifel gelegenen Ordensburg - trotz seiner eigentlichen Funktion als „Stammführer“ -, bereits 1938/39 im dortigen Hörsaal hervor, verherrlichte die nationalsozialistische Didaktik und Ideologie, verdammte Juden, Freimaurer und Kleriker und hetzte gegen das „Untermenschentum“. Sein Fanatismus soll nachweislich dazu beigetragen haben, dass er am 20. August 1939 beim „Burgfest“ der Ordensburg Vogelsang mit seiner Frau neben dem damals prominenten Richard Schaller am Tisch 40 sitzen durfte.

Während der Werdegang von Friedrich Neugenauer bis zum Kriegsbeginn und die dann anfängliche Gefreiten-Laufbahn nachweisbar ist, ergab sich wohl im Dezember 1939 eine Abkommandierung zum Stab von Alfred Rosenberg, dem in der Zeit von 1941 bis 1945 amtierenden „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“. In der nun neuen Funktion beim Reichskommissariat Ostlandwar Friedrich Neugebauer rastlos unterwegs, die alles beeinträchtigende NS-Ideologie pädagogisch in die Wirklichkeit umzusetzen...

Hierüber ist leider nur wenig bekannt geworden, obwohl Neugebauer selber den 2. Weltkrieg überlebte.

 

Friedhof der Stadt Mechernich 1 Friedhof der Stadt Mechernich 2

 

Besonders vom pädagogischen und historischen Standpunkt her ist folgender, äußerst harmloser Artikel, der im Herbst 1942 - in einer Lehrerzeitung erschien, interessant. Er musste natürlich durch die deutsche Zensur laufen. Die sicher nicht fehlerfreie Übersetzung lautet:

Besuch der Leitung der politischen und kulturellen Verwaltung des Reichskommissariat Ostland in Minsk


Journal-Ausgabe : Minsk, September bis Oktober 1942

Im August dieses Jahres 1942 besuchte Herr Neugebauer, der Mitglied des Führungsstabes der politischen und kulturellen Verwaltung des Reichskommissariat Ostland, die Stadt Minsk. Herr Neugebauer, in Begleitung des Leiters der politischen und kulturellen Abteilung des Generalkommissariats von Weissrussland, Herrn Yurda, suchte die Verwaltung und Aufsicht auf des Schul- und Bildungswesens. Er interessierte sich sehr für alle Einzelheiten der Arbeit der Aufsichtsbehörde, suchte alle Räumlichkeiten auf und ließ sich von allen Mitarbeitern ihre Arbeit erklären.

Am zweiten Tag fand ein Treffen in der Aufsichtsbehörde für alle Arbeitnehmer der Behörde statt. Der Gast sagte, er sei zufrieden mit der Arbeit der Aufsichtsbehörde der belarussischen Schulen. Er war überzeugt, dass die Arbeit der Aufsichtsbehörde gut organisiert sei und dass tatsächlich für die Entwicklung des weißrussischen Schule viel getan würde. Herr Neugebauer rief alle auf, auch weiterhin produktiv für die Entwicklung der weißrussischen Schule arbeiten.

Danach beantwortete der Gast die Fragen der Mitarbeiter bezüglich seiner Inspektion. Hier ging es auch um Fragen der Bezahlung für die Arbeit der Lehrer in mittleren und höheren Schulen in Weissrussland wie auch um den Druck von Schulbüchern.

Am Ende der Sitzung dankte Inspektor Protasiewicz Herrn Neugebauer im Namen der Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde. Die deutschen Behörden würden sich sehr für die belarussische Bildung interessieren und der Schule eine warme Haltung entgegenbringen.


Weiterführende Links zu diesbezüglichen Beiträgen auf meiner Homepage:

 

Wurden auf den NS-Ordensburgen künftige „Täter“ erzogen?

taeter

1. NS-Ordensburg Vogelsang: Irritationen um Aufarbeitung der Geschichte (vom 29.11.2006)

2. NS-Ordensburg Vogelsang: Kommentar zum Blog „Mediale Verwirrung um den „Täterort (vom 11.02.2007)

3. Wurden auf der NS-Ordensburg Vogelsang „Täter“ und potenzielle Massenmörder ausgebildet? Eine erstmalige Publikation zu einem umstrittenen Thema (vom 21.07.2007)

4. NS-Täter profitieren von der Hilflosigkeit der Justiz – Ein weiterer Beitrag zur Diskussion um die angeblichen „Täter“ von den Ordensburgen (vom 22.09.2007)

5. Das eigenartige Selbstverständnis von nationalsozialistischen Zeitzeugen in der Diskussion um „Täter“ von NS-Ordensburgen (vom 12.11.2007)

6. Unterschied zwischen SS-Ehrenwache und „Junkertum“ auf der NS-Ordensburg Vogelsang – Der Massenmörder Gustav Sorge (vom 22.11.2007)

7. Das Kornsandverbrechen und die Justiz – Ein „Junker“ der Ordensburg Vogelsang vor Gericht

8. Nachtrag: Erneute Irritationen um Interpretation der jüngsten deutschen Geschichte – Antipathie gegenüber jeder Form von „Heldentum?“ (11.12.2007)

9. Grundsteinurkunde der Ordensburg Vogelsang gehört in ein Dokumentationszentrum oder Museum!

10. „Wutbürger“ gegen ein Hotel auf dem Gelände der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang

11. Zum Recht auf freie Meinungsäußerung: Erfolgreiche Kritik eines „Wutbürgers“ an der Konversion der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang

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